Interview mit Rainer Zitelmann: Dass über Enteignung in Deutschland gesprochen wird, ist erschreckend
Stefan Groß-Lobkowicz27.09.2021Medien, Politik
“The European” sprach mit dem Soziologen und Bestsellerautor Rainer Zitelmann über die Bundestagswahl 2021.
Wie beurteilen Sie den Ausgang der Wahl?
Zitelmann: Positiv ist natürlich, dass Rot-Rot-Grün knapp verhindert wurde. Knapp sage ich, weil dies nur am schlechten Abschneiden der LINKEN liegt. Hätte sie ihr Ergebnis von 2017 gehalten, hätten wir eine deutliche Mehrheit für die Volksrepublik-Koalition. Die drei linken Parteien bekamen wegen des schlechten Abschneidens der Linken zusammen 363 Sitze, hätten aber 368 gebraucht, um eine Regierung zu bilden. Unternehmer können also – zunächst einmal – in Deutschland bleiben und müssen nicht auswandern. Zunächst.
Positiv ist auch, dass die FDP bei den jungen Wählern unter 30 Jahren 20 Prozent erzielte. Das stimmt optimistisch. Ich hoffe nur, dass Christian Lindner mit Blick auf die Ampel bei dem Prinzip bleibt: Besser nicht regieren als falsch regieren
Was hat die SPD falsch gemacht?
Zitelmann: Aus ihrer Sicht hat die SPD alles richtig gemacht. Allerdings mit der größten Wählertäuschung in der Geschichte der Bundesrepublik. Denn Scholz war nur der Fliegenfänger für ehemalige Merkel-Wähler. Das ist gelungen. Dahinter steht bekanntlich die nach Linksaußen abgedriftete SPD mit Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert. Kühnert kommt nicht allein in den Bundestag, sondern bringt 50 Linksaußen-Jusos mit. Insofern ist trotz der Verluste der LINKEN die politische Linke im Bundestag gestärkt.
Was wäre der Vorteil, wenn die Union in die Opposition geht?
Zitelmann: Das wäre ja nur dann der Fall, wenn es zu einer Ampel-Koalition kommt. Und die lehne ich strikt ab. Eine Ampel wäre allenfalls der letzte Rettungsanker in einer verzweifelten Situation gewesen, wo es darum gegangen wäre, eine Rot-Rot-Grüne Regierung zu verhindern. Nachdem diese Gefahr gebannt ist, darf die FDP keine Ampel-Koalition eingehen. Das wäre tödlich für die FDP, es wäre eine Wiederholung des Jahres 2009, wo sie mit einem guten Ergebnis in den Bundestag kam, aber vier Jahre später rausflog, weil sie ihre Versprechen nicht gehalten hat.
Was bedeutet das für die Bundesrepublik und welche Koalitionen sind nun denkbar?
Zitelmann: Eine Koalition aus CDU/CSU und SPD, obwohl rechnerisch möglich, halte ich für unwahrscheinlich. Ganz ausgeschlossen wäre es indes nicht, wenn andere Optionen scheitern. Eine Ampel-Koalition wäre Selbstmord für die FDP – als jemand, der dieser Partei seit 27 Jahren angehört, kann ich also nur hoffen, dass es dazu nicht kommen wird. Das kleinste Übel wäre Jamaika. Übel sage ich deshalb, weil jede Regierung unter Beteiligung der Grünen ein Übel für Deutschland ist.
Zeigt die Wahl, dass die Deutschen politisch immer weiter auseinanderdriften?
Zitelmann: Ich mag die Klagen über die „Spaltung der Gesellschaft“ nicht. Eine gespaltene Gesellschaft macht mir viel weniger Angst als eine Gesellschaft, die im Gleichschritt unter dem Banner der politischen Korrektheit marschiert. Die Vorstellung, alle müssten in eine Richtung marschieren, ist letztlich eine totalitäre Utopie, die zu einer pluralistischen und freiheitlichen Gesellschaft nicht passt.
Was sagen Sie zum Ausgang des Volksentscheids zur Enteignung in Berlin?
Zitelmann: Ich finde es erschreckend, dass in Deutschland heute überhaupt wieder über Enteignung diskutiert und abgestimmt wird. Und erschreckend ist auch, dass 56,4 Prozent der Berliner dafür gestimmt haben. Das zeigt für mich vor allem das grandiose Versagen der marktwirtschaftlichen Kräfte. Die Unternehmen haben doch genug finanzielle Mittel: Warum wurde keine massive PR- und Werbekampagne in Berlin für das Eigentum gemacht? Ich hätte mir mehr Plakate Pro-Eigentum in Berlin gewünscht als Wahlplakate. Und es zeigt sich auch, was ich seit Jahren sage: Der schwächlich-feige Appeasement-Kurs der Immobilienwirtschaft, die sich bei den linken Kräften anbiedert und hofft, dann verschont zu werden, ist kläglich gescheitert. Es mag sein, dass der Volksentscheid nicht umgesetzt wird oder vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert. Doch was läuft, ist die indirekte Enteignung: Immobilieneigentümer stehen zwar weiter im Grundbuch, aber alle wesentlichen Merkmale des Privateigentums werden so weit ausgehöhlt, dass nur noch der leere Rechtstitel bleibt. Das ist die eigentliche Gefahr, auch wenn formell nicht enteignet werden sollte. Übrigens fühle ich mich durch das Ergebnis auch in meiner strikten Ablehnung von Volksentscheiden bestätigt. Ich weiß, dass viele Menschen, die sonst ähnlich so denken wie ich, hierzu eine andere Meinung haben. Aber was bei solchen Volksentscheiden in Deutschland herauskommen kann, haben wir jetzt gesehen.
Fragen: Stefan Groß
Walter-Borjans: „Armin Laschet ist ein Risiko für Deutschland“
Stefan Groß-Lobkowicz24.09.2021Medien, Politik
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans fährt bei „Markus Lanz“ die falschen Geschütze gegen CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet heraus. Damit tut er weder sich noch seiner Partei auf den letzten Metern im Wahlkampf keinen Gefallen. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans ist eine Mischung zwischen Teddybär und unaufgeregten Langweiler, eher Kaufhausvertreter als Machtpolitiker. Borjans versprüht den milden Charme einer Schlaftablette. Doch wenn es um CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet und Scholz’ Gegenspieler geht, wird selbst aus dem gebürtigen Krefelder eine Waffe. Im Wahlkampfendspurt bei „Markus Lanz“ zeigte sich der Sozialdemokrat jetzt kämpferisch. „Armin Laschet ist ein Risiko“, so der 69-Jährige.
Zu Hochform lief Walter-Borjans gestern bei „Markus Lanz“ auf und spielte das Negativ-Campaining der SPD gegen den einstigen Koalitionspartner in die nächste Runde. Laschet degradierte er zum Schreckgespenst eines CDU-Kanzlers und betonte: „Wenn Deutschland einen Armin Laschet zu Putin schickt, würde ich nicht ruhig schlafen“. Noch tiefer in die Klaviatur griff Walter-Borjans dann, als er dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westphalen eine pausenlose Strategieänderung vorwarf. Laschet sei von Panik getrieben und das ist eine Art politische Charakterschwäche. „Er hat keine einheitlich geradlinige Strategie. Und das ist das Risiko für Deutschland“, so der SPD-Chef. Und er setzt noch einen drauf: Wenn Laschet als deutscher Bundeskanzler auf den Bühnen dieser Welt verhandle, „dann weiß ich, wo mir bange ist.“ Ausgerechnet Walter-Borjans, der oft ungeschickt, tapsig und so gar nicht weltmännisch agiert, wirft Laschet vor, dass dieser „in jeder Stresssituation den Stresstest nicht besteht.“
Im eher langweiligsten, aber darum wahrscheinlich spannendsten Wahlkampf der letzten Jahre ist die SPD mit ihrem umstrittenen Matroschka-Werbespot Anfang August gegen die CDU kräftig unter die Gürtellinie gefahren. Zurecht galt die Kampagne im US-amerikanischen Stil als Tabubruch. Damals wurden Laschets Hintermänner, Hans-Georg Maaßen oder auch Nathanael Liminski, Leiter der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, als extreme Köpfe vorgeführt, die Konfession eines seines engsten Mitarbeiters und Wahlkampfleiters verballhornt und als erzkonservativ abgetan. Dass Walter-Borjans hier nicht unbeteiligt war, hat er bei „Lanz“ selbst zugegeben. Und die berechtigte Frage bleibt: Macht man so Wahlkampf, indem man religiöse Überzeugungen angreift?
Es ist schon ein wenig geschmacklos wie der SPD-Chef den NRW-Ministerpräsidenten auf das Korn nimmt und verrät zugleich viel über den Kritiker selbst. Walter-Borjans hat sich mit seinem „Negative Campaigning“ das so im deutschen Wahlkampf nicht üblich ist, keinen Gefallen getan, seiner Partei noch weniger. Vom britischen Premierminister Winston Churchill (1874-1965) stammt jener kluge Satz: „Die Freiheit der Rede hat den Nachteil, dass immer wieder Dummes, Hässliches und Bösartiges gesagt wird.“ Das gilt leider auch für den SPD-Chef.
Schon im christlichen „Alten Testament“ findet sich die geflügelte Textstelle: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein; und wer mit Steinen wirft, wird selbst getroffen! Dies scheint sich auf den letzten Metern im Wahlkampf zu bewahrheiten, denn Armin Laschet rückt wieder näher in den Umfragen an die SPD heran. Ob Walter-Borjans’ destruktive Kritik positiver Nährboden für eine mögliche Ampel sein kann, muss der Politiker vor sich und seinem Gewissen ausmachen.
Katherina Reiche wird „Managerin des Jahres 2021“
Stefan Groß-Lobkowicz24.09.2021Medien, Wirtschaft
Für ihr Engagement in Sachen Gleichstellung erhält die Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates der Bundesregierung und Vorstandchefin der Westenergie AG, Katherina Reiche, den „MESTEMACHER PREIS MANAGERIN des Jahres 2021“.
Diese Frau ist buchstäblich Energie, erneuerbare Energie. Anstatt in die Vergangenheit zu blicken, ist Katharina Reiche, die Chemikerin, eine Zukunftsmacherin. Gestaltend greift sie in die Welt von morgen, beschreitet energisch neue Wege. Beim Thema Gleichberechtigung geht sie in die Offensive, will den Frauenanteil in Vorständen und Aufsichtsräten deutlich erhöhen. Reiche ist überzeugt, dass viel mehr Frauen in die Führungsetagen gehören, die Frauenquote bleibt ihr Herzensangelegenheit. „Das Potenzial in Deutschland ist riesig, wenn wir uns die Ausbildung der Frauen anschauen: Frauen, die 45 Jahre oder jünger sind, verfügen über ein höheres Qualifikationsniveau als gleichaltrige Männer. Einen Hochschulabschluss haben beispielsweise 31 Prozent der 30- bis 35-jährigen Frauen, aber nur 28 Prozent der Männer“, erklärt sie gegenüber dem „The European“.
Die gebürtige Luckenwalderin und Mutter von drei Töchtern, selbst mit Unternehmergeist von Kindesbeinen an geprägt, steht seit Januar 2020 der E.ON-Tochter Westenergie vor. Seitdem dort die Macherin die Strippen zieht, überzeugt die langjährige Politikerin mit Frauenpower. Mit der „FEMpower-Akademie“ hat sie ein Programm zur „Frauenförderung“, eine Fortbildungsakademie des Unternehmens für Frauen, ins Leben gerufen. Reiche will Kolleginnen besser vernetzen und auf die Übernahme von Führungsrollen vorbereiten. Intensive Kooperationen mit Technischen Hochschulen sowie ein profundes Talentmanagement zählt sie dabei zu ihren Kernaufgaben. Gleichberechtigung versteht Reiche dabei nicht als Worthülse, sondern als „elementare Frage von wirtschaftlichem Erfolg“, der letztendlich dem Gemeinwesen zugutekommt.
Frauenpower pur, dafür steht die Wirtschaftsmanagerin, die sich auch ehrenamtlich vielseitig engagiert. Lösungsorientiert und pragmatisch agiert Reiche seit Jahrzehnten. 1992 war sie Gründungsmitglied des RCDS an der Universität Potsdam. 17 Jahre arbeitete sie als Mitglied des Deutschen Bundestages, vier Jahre war sie stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Karrieretechnisch ging es stets bergauf. 2013 wurde die Frau, die jahrelang den Vorsitz der Frauen-Union im Kreisverband Potsdam-Mittelmark führte, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, bevor sie 2013 bis 2015 als Parlamentarische Staatssekretärin ins Bundesverkehrsministerium wechselte.
Seit Jahren kämpft Reiche gegen den Klimawandel und die Treibhaus-Emissionen. Schon 2006 warb sie für Klimaneutralität und sprach sich gegen fossile Brennstoffe aus. Jetzt ist die Macherin und Spitzenmanagerin der Energiebranche bei Westenergie in einer Schlüsselposition, um dort in eine Energie der Zukunft zu investieren, nicht nur nebenbei erhöht sie auch den Frauenanteil im Unternehmen. Reiche, die auf diverse Führungsteams setzt, weil diese eine neun Prozent höhere Gewinnmarge und einen 20 Prozent höheren Umsatz als Wettbewerber, die nur von Männern geführt werden, generieren, managet 10.000 Beschäftigte. 175.000 Kilometer Strom-, 24.000 Kilometer Gas- und 5.000 Kilometer Wasserleitungen sowie 10.000 Kilometer Breitbandnetze für rund 6,6 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz stehen unter ihrer Regie. Der Netzbetreiber ist nicht nur im Zentrum der nationalen sowie europäischen Energiewende, sondern muss die Dekarbonisierung des Energiesystems bis 2045 wesentlich vorantreiben. Für Reiche ist es die größte Herausforderung der Industriegeschichte, die sie tatkräftig mit Sachverstand und Charme in Angriff nimmt. Die Managerin weiß, dass der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und der Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft nur gelingen kann, wenn Wirtschaft, Politik und Gesellschaft an einem Strang ziehen. Wie zukunftsorientiert Reiche dabei agiert, zeigt sich bei vielen Forschungsprojekten, die sie auf den Weg bringt und bei der Entwicklung von Modellregionen für die Energiewende. Mit dem Nationalen Wasserstoffrat, dessen Vorsitz sie übernommen hat, konkretisiert sie ihre Zukunftsvisionen durch einen sehr klaren 80-Punkte-Plan, der es ermöglicht, den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft zügig zu gestalten.
Für ihr Engagement sowohl als Kämpferin für mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern als auch eine der wichtigsten Managerinnen bei der Gestaltung der Energiewende, wird Reiche der „Mestemacher Preis Manegerin des Jahres“ am 24. September 2021 im Grandhotel Adlon Kempinski verliehen. Die Initiatorin und Vorsitzende der Geschäftsführung Mestemacher Management GmbH, Prof. Dr. Ulrike Detmers würdigt die 20. Preisträgerin mit den Worten: „Im 20. Jubiläumsjahr des Gleichstellungspreises ehren wir die Vorstandschefin der Westenergie AG, Katherina Reiche. Sie ist eine der führenden und zugleich wenigen Spitzenmanagerinnen der Energiebranche und Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates der Bundesregierung. Daran wird bereits deutlich, dass sie Diskussionen vorantreibt und Veränderungen energisch, präzise und verbindlich angeht“.
Saskia Esken – Früher war sie Straßenmusikantin
Stefan Groß-Lobkowicz21.09.2021Medien, Politik
Saskia Esken hat fast aus dem Nichts eine politische Karriere hingelegt. Unter einer rot-rot-grünen Bundesregierung könnte sie jetzt sogar Bildungsministerin im Kabinett von Olaf Scholz werden. Doch er ist diese Frau wirklich? Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Aus Übersee kommt derzeit keine gute Kritik zum deutschen Wahlkampf und den Personalien. Die „New York Times“ findet alle Kanzlerkandidaten und insbesondere Olaf Scholz (SPD) ohne Charisma und öde. Der langweiligste Typ bei der Wahl – vielleicht im ganzen Land“ schriebt der frühere US-Botschafter John Kornblum. Sein Fazit: Selbst Wasser beim Kochen zuzusehen, sei interessanter.
Wen Kornblum gar nicht auf seiner Agenda hatte, war die 1961 in Stuttgart geborene Saskia Esken. Die linkseingefärbte Sozialdemokratin, der selbst Willy Brandt nicht sozialistisch genug war, ist so gar nicht Establishment. Für Esken gibt es keine Vorbilder. Die Schwäbin, die auf Bildung, Klimaschutz, 12 Euro Mindestlohn, den Kampf gegen Rechts und auf das Motto „mehr Demokratie wagen“ setzt, will weder wie Armin Laschet oder Scholz Merkel kopieren, sondern Authentizität versprühen. Politisch hatte sie ganz klein im Jugendhaus in Weil der Stadt angefangen und über eine ehrenamtliche Elternvertretung sich peu à peu an die Bildungspolitik herangearbeitet und es zur stellvertretenden Vorsitzenden des Landeselternbeirats Baden-Württemberg. Die Frau, die mit Linken Ex-Linken Chef Bernd Riexinger politisch auf eine Karte setzt und den Juso-Flügel um Ex-Chef Kevin Kühnert in der SPD vertritt, will eigentlich mehr Dialog, mehr Werte, mehr Solidarität – Ehrenamt und ein ehrliches Engagement. „Miteinander sprechen, einander zuhören und immer versuchen, einander zu verstehen“ Das dialogische Prinzip habe sie begeistert, seit ihrer Kindheit bis in die ersten Fußstapfen in die Kommunalpolitik hinein. Nun könnte der Politikerin, die den Wahlkreis Calw / Freudenstadt mit 66 Städten und mehr als 280.000 Einwohnern als Bundestagsabgeordnete per Wahlkreis vertritt, noch mehr an den Strippen der Macht ziehen, vielleicht mehr als sie es sich in ihren kühnsten Träumen zu hoffen wagte. Doch derzeit fährt die Union unter CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak noch eine Rote-Socken-Kampagne gegen Esken. Tenor dabei: Wer die SPD wählt, wählt nicht den netten und biederen Scholz, sondern auch Parteilinke wie Kevin Kühnert.
Mit der Gitarre auf der Straße – Esken startete buchstäblich von ganz unten
Nach abgebrochenem Studium ihres Politik- und Germanistikstudiums hatte Esken, die in den Medien nicht eben wie ein Star, sondern eher ein bisschen bieder und hausfraulich, eben schwäbisch altbacken als avantgardistisch daherkommt, ist die damals noch nicht studierte Informatikern durch Süddeutschland als Straßenmusikerin mit der Gitarre in der Hand getourt. Die Nähe zu den Menschen, die Mühen der Ebene kennt sie wie der linke und DDR-nahe Staatslyriker und Dramatiker Berthold Brecht gut. Esken hat in Kneipen gekellnert und Pakete ausgeliefert, sie war Chauffeurin und Schreibkraft an der Uni Stuttgart. Dieses von ganz unten Kommen, hatte die SPD-Funktionäre letztendlich an ihr fasziniert.
Mit 29 Jahren trat 60-jährige Esken in die SPD ein – und ihr Mann war es, der sie 2008 aufforderte mehr politisch aktiv zu werden: „Jetzt bist du dran“. So war die couragierte Politikerin, die die Schattenseiten ungelernter Arbeit kennengelernt und als konstruktiven Reiz für eine gerechtere Politik sich auf die Fahnen seither schrieb von 2008 bis 2015 Vorsitzende des Ortsvereins Bad Liebenzell und von 2010 bis 2020 Vorsitzende des Kreisverbands Calw. Politisch richtig startete sie dann durch ihre Wahl als Beisitzerin in den Vorstand der SPD Baden-Württemberg durch. Seit 2013 behört sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestags dem Ausschuss für Bildung und Forschung an, ist Mitglied im Innenausschuss und im Ausschuss Digitale Agenda. In all den Jahren hatte sie sich als engagierte Digitalpolitikerin einen Namen gemacht.
Doch bei dem steilen politischen Aufstieg hatte sie die Menschen nicht vergessen, und anders als das Establishment gibt sie sich nicht mit Kompromissformeln und abgebügelten Politikerstatements zufrieden. Sie will Menschen vielmehr motivieren und befähigen, ihr Leben frei zu gestalten. „Ich möchte sie für die Nöte von Schwächeren sensibilisieren und sie ermutigen, solidarisch zu sein und sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren“, schreibt sie auf Webseite.
Eine steile Karriere, aber doch mit Hindernissen
Karrieretechnisch lief es nicht immer rund. Mehrmals gelang ihr der Einzug in den Bundestag nicht. Auf dem Landesparteitag im November 2018 verpasste sie erneut die Wahl in den Landesvorstand 2019. Und auch bei der Wahl zum SPD-Vorsitz 2019 war sie zuerst dem Duo Klara Geywitz und Olaf Scholz haushoch unterlegen. Erst bei der Stichwahl im November 2019 erhielten Esken und Walter-Borjans 53,1 Prozent der Stimmen und schoben Geywitz und Scholz vorerst aus dem Zentrum der Macht. Der Bundesparteitag am 6. Dezember 2019 brachte dann den politischen Durchbruch: 75,9 Prozent stimmten für Esken, 89,2 Prozent für Walter-Borjans. So beeindruckend die fast 76 Prozent waren, die gebürtige Stuttgarterin, die in Renningen aufwuchs, kassierte damit das zweitschlechteste Ergebnis das je bei einer SPD-Vorsitzenden-Wahl ohne Gegenkandidaten eingefahren wurde. Toppen konnte das nur Ex-Außenminister Sigmar Gabriel 2015 für den damals nur 74,3 Prozent der Delegierten stimmen
Als Duo mit Walter-Borjans kam der Durchbruch. Seit 2019 bildet sie die Doppelspitze der SPD. Esken, die keinen klassischen Politiker*innen-Werdegang hingelegt hatte, ist stolz auf das Zukunftsprogramm, stolz, das die totgeglaubte Arbeiter- und Volkspartei 2021 erneut an die Macht strebt und mit ihr für die Idee einer gerechteren Zukunft „in einer Gesellschaft des Respekts und einem starken Europa“ werben kann.
Für diese Politik steht der Name Esken
Politisch verortet sie sich selbst zum linken Flügel der SPD-Bundestagsfraktion. Die „Agenda 2010“ von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder begreift sie als Sündenfall. Kritik äußert sie immer wieder an der Hinterzimmer-Politik als Kaderschmiede. Und als das Bundesverfassungsgericht Kürzungen des Arbeitslosengeldes II. für teilweise verfassungswidrig erklärte, hatte die Informatikerin 2019 die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen gefordert. Der Mindestlohn von 12 Euro, das Abrücken von der Schuldenbremse, eine Vermögensabgabe für Besserverdienende und die Forderung nach einem Klimaschutzpaket, das diesen Namen auch verdient, für diese Ideen wird sie sich künftig weiter messen lassen. Dass sie sich nie in der Großen Koalition wohl gefühlt hat, ist biografisch begründet. Esken plädiert für eine Entkriminalisierung von Cannabis, fordert ein rigides Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Und betont: „Oft sei die „Bevölkerung weiter als die Politik“. Und radikal fordert sie, dass man sich mit dem Willen der Mehrheit „auch gegen den Protest von Lobbygruppen“ durchsetzen kann.
Mögliche Bildungsministerin unter Olaf Scholz
Scholz, der als möglicher neuer Bundeskanzler auch mit Sicherheit SPD-Vorsitzender werden will, hält Esken geeignet für ein Ministeramt. Dem „Spiegel“ sagte er: „In der SPD sind viele ministrabel, die Führungsaufgaben in der Fraktion oder der Partei wahrnehmen“ – dazu gehörten „die Vorsitzenden selbstverständlich auch“. Damit ist für den Wähler klar, wer Scholz wählt, bekommt auch die linksambitionierte Esken. Während Scholz in einer One-Mann-Show derzeit durch Deutschland tourt, ist seine Taktik, jetzt Esken mit an Bord zu nehmen Kalkül. Ihrerseits spricht die Parteichefin davon, dass „Olaf der richtige Mann fürs Kanzleramt ist“ – und lässt ausnahmsweise das Gendern und sämtliche Spitzen beiseite. Esken weiß wie die Parteilinken um Kühnert, dass die SPD nur mit einem bürgerlich-mittig verorteten Politiker wie Scholz eine Chance auf das Kanzleramt hat. Dass Scholz aber dadurch links „eingerahmt“ ist und ein Wahlprogramm fahren muss, das in entscheidenden Punkten Jusos und Linken gefällt, mag dem eher konservativ-bürgerlichen Scholz nicht schmecken. Doch aus innerparteilichen Grünen und um der Harmonie Willen, muss er den linken Flügel beschwichtigen und sanft moderieren.
Der Parteivorsitzenden die Fähigkeit für ein Ministeramt zuzusprechen, ist kein großes Opfer für den Taktiker und ehemaligen Regierenden Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. Denn ganz so links ist Esken im derzeitigen Wahlkampf nicht mehr. Ihre rote Socken Mentalität hat sie schon ein wenig abgelegt. Aber was sie will, ist klar: Keine Große Koalition mehr, auch nicht unbedingt eine Ampel, sondern ein Bündnis aus SPD, Grünen, und Linken. Und sie gibt gleichzeitig Entwarnung. Keiner „muss Angst vor Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Rot haben.“ Und wenn die SPD tatsächlich den nächsten Kanzler stellt, würde sie gern Ministerin für Bildung oder Soziales werden. Und dies womöglich sogar mit Gitarre. Vielleicht versöhnt ihre Musik viele ihrer derzeitigen Kritiker.
Interview mit Hermann Binkert: INSA-Chef Binkert: Ich war mir sicher, dass Olaf Scholz vorne liegen wird
Stefan Groß-Lobkowicz20.09.2021Medien, Politik
Insa-Chef Hermann Binkert hatte auf der Executive-Night des Ludwig-Erhard-Gipfels am 22. Juli 2021 bereits den Sieg von Olaf Scholz vorausgesagt. „The European“ traf den Experten zum Gespräch.
Sehr geehrter Herr Binkert, warum waren Sie sich schon im Juli so sicher, dass Olaf Scholz Kanzler wird?
Ich war mir sicher, dass Olaf Scholz im Personenranking deutlich vor Annalena Baerbock und Armin Laschet liegt. Und ich war mir sicher, dass die SPD ein großes zusätzliches Potential hat. Die SPD hatte bei uns in der Potentialanalyse, wir nennen sie INSA-Analysis Potentiale, auch in den letzten Jahren, in denen sie bei der Sonntagsfrage schlecht abschnitt, immer das größte zusätzliche Potential aller im Bundestag vertretenen Parteien. Die SPD schnitt aber auch bei unserer „negativen Sonntagsfrage“ immer am besten ab, hatte die wenigsten Wähler, die sie grundsätzlich nicht wählen wollten. Die Marke SPD war also intakt.
Wie sicher ist denn ihre Prognose, oder wird es vielleicht doch am Ende Armin Laschet oder Annalena Baerbock?
Ob Olaf Scholz Kanzler wird, das hängt letztlich nicht nur an seinen persönlichen Popularitätswerten und der Stärke seiner Partei, sondern daran, ob er Koalitionspartner findet, die ihn zum Kanzler wählen. Ich schließe aus, dass Bündnis90/Die Grünen stärkste oder zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag werden. Annalena Baerbock wird wahrscheinlich Vizekanzlerin, aber sie wird nicht Kanzlerin. Ob Olaf Scholz oder Armin Laschet Kanzler wird, das hängt davon ab, wer von den beiden ein Bündnis schmieden kann, dass auf eine parlamentarische Mehrheit kommt. Olaf Scholz wird mehr Optionen haben, eine solche Regierung zu bilden.
Oft liegen Umfragen falsch? Woran liegt das?
Umfragen spiegeln die politische Stimmung zum Zeitpunkt der Erhebung. Sobald die Umfrage veröffentlicht wird, kann sie diese politische Stimmung wieder beeinflussen. Viele Wähler stimmen strategisch ab. Und dann gibt es auch noch den Mitläufer- und den Mitleidseffekt. Diese lassen sich nicht vorhersagen. Meinungsforscher sind keine Propheten.
Woran liegt es Ihrer Meinung, dass Olaf Scholz und die SPD so aufgeholt und die Grünen so viele Prozentpunkte verloren haben? Hätte die Union unter CSU-Chef Markus Söder mehr Chancen gehabt?
Die SPD hat sich mit Olaf Scholz als stärkste Kraft im Lager links der Mitte durchgesetzt. Sie hatte auch immer mehr Potential als die Grünen. Ohne die Patzer von Annalena Baerbock und Armin Laschet hätte sich der Trend wahrscheinlich nicht so schnell und so deutlich zu Gunsten von Olaf Scholz entwickelt. Und ja, demoskopisch sprach bereits im April 2021 alles für Markus Söder. Doch wie schnell Stimmungen wechseln können, das haben wir alle erlebt. In diesem Wahljahr konnten sich sowohl Frau Baerbock als auch die Herren Laschet und Scholz schon einmal auf der Siegerstraße fühlen. Wer zuletzt lacht …
Wie blicken die Bundesbürger in die Zukunft, wenn man 1. die Deutschlandkoalition, 2. die Ampel, 3. Schwarz-grün oder eine rot-rot-grüne Koalition in Betracht zieht!
Eine echte Koalitionsfavoriten haben die von uns Befragten nicht. Am populärsten ist noch ein rot-grünes Bündnis, das aber ebenso wie Schwarz-Grün eine parlamentarische Mehrheit verfehlen wird. Am realistischen erscheinen mir eine Ampel-Koalition, Rot-Grün-Rot oder eine Jamaika-Koalition.
Das Gespräch führte Stefan Groß
Michael Kellner: Diese zwei Fehler machte er zuletzt
Stefan Groß-Lobkowicz18.09.2021Medien, Politik
Die Grünen haben sich nach anfänglichen Höhenflügen im Wahlkampf verbrannt. Von den guten Umfragewerten ist zwei Wochen vor der Bundestagswahl nicht mehr viel geblieben. Dennoch hat die Partei in den vergangenen Jahren in der Wählergunst deutlich gewonnen. Ein Mann, der eher im Hintergrund die Fäden zieht, ist maßgeblich für den grünen Erfolg verantwortlich – Michael Kellner. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Die neuen Grünen sind anders als die alten Revoluzzer um Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Jutta Ditfurth, die als Enfant terribles für Schrecken im bürgerlichen Deutschland der Nachkriegszeit sorgten. Die neue Generation mag es bescheidener, verpackt ihre Wahlprogramme in geschickt inszenierte Erzählungen, setzt auf Neuanfang und Gewissensappelle. Und hinter jeder Kampagne steckt nicht mehr die Wildheit und Unbefangenheit der Gründungsjahre, die Happenings, Straßenkämpfe und der pure Protest, sondern Annalena Baerbock und Robert Habeck können auf professionelle Hilfe im Wahlkampf zurückgreifen. Bei ihren hegemonialen Bestrebungen an die Spitze des Landes zu treten, setzt die Partei immer mehr auf Kalkül und Taktik, auf eine komplexe Machtmaschine von Aufpassern und Strippenziehern.
Der unprätentiöse Mann aus Gera
Einer der neuen Generation ist der gebürtige Geraer Michael Kellner, der Kampagnenorganisator und Geschäftsführer. „Habecks Mastermind“ nennen sie ihn. Das Herz des 43-Jährigen schlägt einerseits im urbanen Schicki-Micki- und Insiderviertel Prenzlauer Berg als auch der beschaulichen und naturbelassenen Uckermark. Kellner, der nach außen hin den bodenständigen Macher gibt, den nahbaren Erklärbär, agiert innenparteilich knallhart auf der Klaviatur der Macht. Er hat nicht nur die Idee der hauseigenen PR-Agentur in der Grünenzentrale durchgesetzt, sondern ohne die Arkusaugen des studierten Politikwissenschaftlers verlässt kein Plakat und Slogan die Schaltzentrale. Dass Kellner, Sohn eines Schuldirektors und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, im Wahljahr 2021 deutlich höher pokern und die Wahlkampfmaschinerie auf Hochtour laufen lassen kann, verdankt sich nicht nur hohen Parteispenden und der deutlich angestiegenen Zahl an Mitgliedern, sondern einem Wahlkampfetat, der in der Geschichte der Grünen fast rekordverdächtig ist. Waren es 2017 noch sechs Millionen Euro, die Kellner in die Wahlkampf-Arena werfen mochte, lässt sich mit den zehn Millionen Euro 2021 solide wirtschaften und ein Wahlkampffeuer geradezu entfachen.
Kellner setzt die Messlatte hoch an
Ob Europa oder Landtagswahl – Kellner kann einen Sieg nach dem anderen für die Partei einfahren. Der digitale Grüne, der die strategische Bedeutung des Internet für die politische Kommunikation und die Wirkmechanismen der sozialen Netzwerke als neuer Plattformen des Wahlkampfes geschickt bespielt, ist mit seinen zwei Metern ein Riese. Mit seiner Partei will er noch höher und legt die Messlatte weit oben an. Doch schon jetzt liegt die Erfolgsquote des Partei-Modernisierers bei 100 Prozent. Dem Mann, der drei Jobs als Entwickler, Controller und Vertriebler in Personalunion auf sich vereinigt, ist es zu verdanken, dass die Grünen bei den Landtagswahlen in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg Rekordergebnisse einfuhren. Kellner, der gern im Hintergrund die Strippen zieht, baut die Erfolgsbühne, auf der das grüne Chefduo Robert Habeck und Annalena Baerbock steht. Der ehemalige Büroleiter von Claudia Roth hat mit seiner Taktik nicht nur bei der SPD indirekt für einen beispiellosen Absturz gesorgt, sondern seine eigene Partei nach dem Abgang des Übervaters Joschka Fischer 2005 aus der inhaltlichen Sklerose befreit. Aus einer Spießerpartei formte er kurzerhand eine neue Avantgarde.
Der Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, der während des Politikstudiums in Potsdam zur Partei kam und dort zum linken Parteiflügel zählt, spricht im Superwahljahr schon von einer „Zeitenwende in der deutschen Politiklandschaft.“ Und auch dass man im Wahljahr nicht an den Grünen vorbeikommt, daran lässt er keinen Zweifel. „Deutschland erlebt nicht nur erstmals einen Wahlkampf ohne amtierende Kanzler*in, sondern auch mit den Grünen als führende progressive Kraft eine neue Form der Auseinandersetzung fernab der alten Denkmuster von Volksparteien und Lagerdenken.“ Und gerade deshalb zielt das Programm der Grünen auf eine breite Zielgruppe. Die Parole heißt nun Einigkeit: „Wir sind dafür vorbereitet, wir ziehen alle an einem Strang.“
Schaltzentrale der Macht – Die Agentur „Neues Tor 1“
Um den Dampf im politischen Kessel richtig anzuheizen, war es wiederum Kellner, der zur strategischen Unterstützung der Parteigranden die neue Agentur „Neues Tor 1“ aus der Taufe hob. Der Agenturname steht nicht nur programmatisch für die Adresse der Parteizentrale in Berlin-Mitte, sondern fungiert auch als Kampfansage an die Union um Platz eins im Rennen um das Bundeskanzleramt. „Vom zweiten Platz aus kämpft man klar um das entscheidende Tor zum Sieg“, so Kellner. Mit der Projektagentur, die allein für die Kampagnenaktivitäten für den Bundestagswahlkampf 2021 gegründet wurde, steht Kellner ein kampferprobtes achtköpfige Kernteam zu Seite, in dem erfahrene Campaigner und Beraterinnen sowie Digitalexperten und Kreative aus den verschiedensten Agentur- und Organisationshintergründen arbeiten. Mit im Team ist Kurt Georg Dieckert, Chef der Berliner Agentur Dieckertschmidt, der bereits die Europawahlkampfkampagne erfolgreich verantwortete. Mit Matthias Riegel ist einer der strategisch einflussreichsten PR-Berater mit an Bord, der Winfried Kretschmann zum wiederholten Sieg in Baden-Württemberg verholfen hatte. Der Bundeswahlkampf 2017 war ohne Riegel nicht denkbar. Unter dem Label „Ziemlich beste Antworten“ rekrutierten die Grünen bereits damals ein Team aus der Partei nahestehenden Werbefachleuten. Nun ist es 2021 wieder an Riegel, den Bundesvorstand der Grünen strategisch zu beraten und zugleich die „dramaturgische Leitung“ im Wahlkampf zu übernehmen. Mit Theresa Reis (zuletzt beim WWF), die sich im Berliner Wahlkampf 2020 profilieren konnte und Berit Leune, einer erfahrenden Marketing-Expertin, die sich ihre Meriten in den Kommunikationsabteilungen von Coca-Cola und BMW verdiente, ist Kellner grüne Zukunftsschmiede bestens aufgestellt.
Bei Baerbock und bei der Neuaufstellung des Landesverbandes an der Saar machte er erste Fehler
Als Baerbock dann Mitte 2021 durch ihre Schummeleien bei Vita, Studium und Buchpublikation einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit verlor und am Politikhimmel buchstäblich verglühte, war es Kellner, der die fragwürdigen Aktionen der Grünen-Chefin zuerst verharmloste: „Bagatellen werden aufgebauscht,“ um vom Klimawandel abzulenken, betonte er noch Anfang Juli. „Das lassen wir uns nicht gefallen,“ sagte der Strippenzieher. Er sprach von einer gezielten Verleumdungskation. Der Plagiatsvorwurf sei haltlos, „Rufmord“ das Ganze. „Manöverkritik machen wir intern“, hieß es. Dem allzu kritischen Umgang mit Baerbock wollte er gar ein Stoppschild vorsetzen und der von der Partei eingesetzte Star-Medienanwalt Christian Schertz sollte es richten. Doch die Beweislast gegen die Baerbock-Täuschungen war zu schwer, hier konnte selbst Kellner nichts mehr beschönigen. Eine Woche später kam dann prompt die Kehrtwende: Der grüne Macher gab Mängel im bisherigen Wahlkampf zu. „Es wurden Fehler gemacht, das ist offensichtlich.“ Auch am Debakel der Saar-Grünen, die nach einem bizarren Wahlkampf vom Bundeswahlausschusses nicht für die Bundestagswahl zugelassen wurden, war Kellner nicht ganz unbeteiligt, der unbedingt eine Quotenfrau mit durchsetzen wollte. Er hatte sich gegen den gewählten Grünen-Landeschef Hubert Ulrich und für die neue Spitzenkandidatin Jeanne Dillschneider ausgesprochen. Ulrich sah die Schuld für das Debakel beim Bundesvorstand und dem Bundesschiedsgericht der Partei. „Sie haben die Entscheidung […] zu verantworten“ und eine „neue Liste erzwungen“, die durch die Entscheidung des Bundeswahlausschusses „in der Luft zerrissen“ wurde. Die Grünen im Saarland hatten Ulrich auf Listenplatz eins gewählt – obwohl der eigentlich einer Frau vorbehalten war. Der Imageschaden des Landesverbandes trifft jetzt letztendlich auch die Bundespartei, die nun auf die wichtigen Stimmen aus dem Saarland verzichten muss.
Fazit: Michael Kellner bleibt auf Konfrontationskurs – und er ist einer mit dem die Parteienlandschaft in Deutschland weiter rechnen muss. Der größte Fehler wäre es, den Wahlkampfmanager zu unterschätzen. Wohin er seine Partei in den letzten Jahren geführt hat, dokumentieren anschaulich die Umfragewerte der Grünen. Immerhin scheint eine rot-grüne oder gar rot-rot-grüne Koalition acht Tage vor der Wahl denkbar. Baerbock wird jetzt gar als Außenministerin gehandelt – verdanken tut sie dies auch Kellner.
Kunst-Weltstar Gerhard Richter spendet für Obdachlose
Stefan Groß-Lobkowicz17.09.2021Medien, Wirtschaft
Gerard Richter ist einer der teuersten Maler dieser Welt. Auf Auktionen fährt er mit seinen Kunstwerken Rekordsummen ein. Doch immer wieder spendet er sein Geld für einen guten Zweck. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
1932 in Dresden geboren, ist Gerhard Richter buchstäblich ein Marathonläufer. Der fast 90-jährige Superstar hat alles erreicht, in den größten Museen der Welt hängen seine Werke, Sammler wurden durch ihn reich. Vielschichtig ist er sein ganzes Leben – bis ins hohe Altern hinein – geblieben, dem Geist des Entdeckens, dem Zauber der Verwandlung auf der Spur. Kaum einer kann auf ein derartig vielschichtiges Lebenswerk zurückblicken. Und Richter war es, der der nach der Nachkriegszeit gebeutelten Malerei ein neues Gesicht schenkte. Anders als sein Lehrer Joseph Beuys ging es Richter nicht vordergründig allein um Happenings, um eine Kunst in Aktion, sondern um die Suche nach neuen Kunstmaximen, um eine provokante Bildsprache, die die Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit einzufangen vermag.
So wurde Richter zum Grenzgänger zwischen den Welten. Der einstige Stipendiat der Dresdner Hochschule floh zuerst aus den Kerkerwänden des ostdeutschen Realismus, um von dort sich die ganze Welt buchstäblich zu erobern. Richter, der „Picasso des 21. Jahrhunderts“, galt als Freiheitsenthusiast, als einer, der sich weder die kritische Stimme gegen die Funktionäre verbieten ließ noch als einer, der sich mit der Enge der DDR-Kunstdogmatik zufriedengeben wollte. Nach der Flucht in den Westen 1961 wurde er in Düsseldorf als Professor zum gefeierten Star. Richter hatte im ruhigen Fluss seiner Arbeit immer wieder mit Nachdruck vorgeführt, was Malerei noch zu leisten vermag und dass sie sich gegen das Diktum der nachgesagten Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch ein Bild zu malen, kraftvoll entgegengestellte. Richter malte gegen das Vergessen, flirtete mit Fluxus, Fotorealismus und Pop Art und Readymade – doch einordnen in eine Richtung ließ er sich nie. Seit Beginn der 60er-Jahre hatte er seine eigene Form gefunden, die Idee, Fotografien abzumalen, die Ränder der Figuren zu verwischen und damit Unschärfe zu erzeugen. Richter ist ein Unangepasster in der Kunst geblieben, einem, dem das Experimentieren alles ist, der sich weder in das Korsett des sozialistischen noch des kapitalistischen Realismus pressen ließ.
Wenn es um Ehre, Weltruhm und Ewigkeit geht, ist Gerhard Richter schon längst im Götterhimmel der Kunst angelangt. Dort hat der Ewig-Schaffende bereits jetzt einen festen Platz, was gar nicht so einfach für einen Atheisten „mit Hang zum Katholizismus“ ist. Doch „ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches“ könne er nicht leben. Es ist das Bekenntnis eines religiös nicht ganz unmusikalischen Malers, der faustisch mit den Energien des Kreativen ringt, mit dem produktiven Dämon, der ins Unendliche treibt und Werke schafft, die ihresgleichen suchen.
Starallüren hat sich Richter stets verweigert, er ist kein Markus Lüpertz. Richter ist ein unabhängiger Künstlertyp geblieben. Das Malergenie liebt es eher unprätentiös, er ist denkbar bescheiden, der Hype um seine Person ihm unangenehm. Lange schon hatte er sich von der Oberfläche der Eitelkeiten verabschiedet und in das Villenviertel Hahnwald in seiner Wahlheimat Köln zurückgezogen. Den größten Teil der heutigen Auktionskunst hält er allerdings für überteuert. Was fehle, sei der Maßstab für die Beurteilung des Wertes von Kunstwerken. „Wenn Sie die Auktionskataloge sehen, da wird ja 70 Prozent Müll für teures Geld verkauft.“ „Die Kriterienlosigkeit, die ist schon das Härteste dabei.“ Zwar finde er es angenehm, er, der sich nie als Marketingstratege verkauft hat, dass für seine Werke Millionensummen bezahlt werden, es zeigt immerhin, dass er geschätzt werde. Aber zugleich ist es für ihn auch „unerträglich und pervers, dass es solche Unsummen sind“. Und auf die Frage, ob er das Gefühl habe, dass seine Kunst verstanden wird, antwortet er: „Manchmal ja. Sonst hätte ich ja nicht so viel Erfolg. Also irgendwas wird ja schon ab und zu verstanden.“ Allein sein „Abstraktes Bild 509“ erbrachte 2015 rund 39 Millionen Euro.
Mit 88 Jahren legte der Mann, dessen Maxime es war, dass die „Kunst die höchste Form der Hoffnung“ sei, der laut „Manager Magazin“ zu den 500 reichsten Deutschen zählt und als der wichtigste Künstler der Gegenwart gehandelt wird, den Pinsel aus der Hand. Drei Kirchenfenster im Kloster Tholey gelten als sein letztes malerisches Vermächtnis. „Irgendwann ist eben Ende.“ „Das ist nicht so schlimm. Und alt genug bin ich jetzt,“ erklärte er im September 2020 und sein Abschied von der Malerei glich einem Paukenschlag.
Der Weltstar hat die große Bühne der Kunst verlassen, doch sein Herz ist weiter für die Armen geöffnet. Sechs Millionen Besucher begeistern sich jedes Jahr für sein Farben-Fenster im Kölner Dom aus dem Jahr 2007. Und den Ärmsten von ihnen, gibt er nun einen kleinen Teil seines Erfolges zurück. Der Maler mit Herz, der Kunst-Weltstar, ist großherzig, einer, der seine prallen Taschen immer wieder für Bedürftige öffnet. In den vergangenen zehn Jahren hat er fast eine Million Euro gespendet und dafür einige seiner Werke zur Verfügung gestellt.
Auch der Verein „Kunst hilft Geben für Arme und Wohnungslose“ (Cultopia Stiftung) hat davon profitiert. „Wir haben allein durch den Verkauf und die Versteigerung seiner Werke über eine halbe Million Euro eingenommen“, so Vorstand Dirk Kästel. Und er fügt hinzu: „Damit ist Richter maßgeblich an unserem Neubau beteiligt. Wir errichten in Mülheim für 8,7 Millionen Euro drei Häuser für Obdachlose, Flüchtlinge und Bedürftige.“
In der Covid-Pandemie kümmerte sich der Verein speziell um Corona-geschädigte Bedürftige. Inmitten der weltweit größten Epidemie stiftete und signierte Richter 30 seiner berühmten „Kerzen“-Bilder. Alle wurden sie verkauft und brachten den stolzen Erlös von 320.000 Euro für einen guten Zweck ein.
Richter, der Ewig-Schaffende, ist damit nicht nur ein Visionär, was seine Kunstwerke betrifft, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der bei allem Erfolg diejenigen nicht vergisst, denen die Welt nicht das Glück der Erde in Form eines unfassbaren Vermögens geschenkt hat. Richter hat es sich verdient – mit Kreativität und Freiheitswillen. Doch der gefeierte Weltstar weiß, dass Ruhm allein nicht glücklich macht. „Geben ist seliger denn nehmen“, hieß es schon in der „Apostelgeschichte“ – und der Maler mit Herz gibt, damit andere davon profitieren können.
Merkels China-Botschafter ist tot: Hecker war einst in der SPD
Stefan Groß-Lobkowicz7.09.2021Medien, Politik
Die Bundeskanzlerin hat nicht viele Vertraute. Es ist ein auserlesener Kreis den sich Angela Merkel (CDU) in den letzten sechzehn Jahren ihrer Amtszeit aufgebaut hat. Jan Hecker, Merkels neuer Botschafter in Peking, jedenfalls gehörte mit dazu. Nun ist er überraschend mit 54 Jahren gestorben. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.
Die Trauer im Kanzleramt ist groß. Merkels früherer außenpolitischer Berater Jan Hecker hatte erst vor zwei Wochen seine China-Mission als Botschafter in Peking angetreten. Der Mann, der für Kontinuität im schwierigen Verhältnis zu China sorgen sollte, ist tot. Zum überraschenden Tod erklärte die Bundeskanzlerin: „Der Tod Jan Heckers erschüttert mich zutiefst“. […] „Ich trauere um einen hochgeschätzten langjährigen Berater von tiefer Menschlichkeit und herausragender Fachkenntnis. Ich denke voller Dankbarkeit an unsere Zusammenarbeit und bin froh, mit ihm über Jahre so eng verbunden gewesen zu sein,“
Schaut man auf den Stab, der die Kanzlerin umgibt, so sind es zwei Frauen, die für die Politikerin unverzichtbar sind. Beate Baumann und Eva Christiansen. Baumann ist seit 1995 Büroleiterin der Physikerin aus Hamburg, Christiansen seit 1998 an Merkels Seite. Während Baumann quasi Merkels Schatten ist, der nie in die Öffentlichkeit tritt, agiert Christiansen als Chefinterpretin Merkels gegenüber Journalisten. Neben Ehemann Joachim Sauer, Volker Kauder, Peter Altmaier, Steffen Seibert, Julia Klöckner, Helge Braun, Annegret Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen war der studierte Politik- und Rechtswissenschaftler Jan Hecker auch Teil des „inner circles“ der deutschen Regierungschefin.
Nach dem Studium in Grenoble und Göttingen machte der später an der Viadrina habilitierte außerplanmäßige Professor für Öffentliches und Europarecht schnell Karriere. Europa und das Verfassungsproblem standen auf Heckers wissenschaftlicher Agenda. 1999 bis 2011 war er im Bundesinnenministerium abgestellt, von 2011 bis 2015 Richter am Bundesverwaltungsgericht. Dort oblagen ihm wichtige bildungspolitische, personalrechtliche Ressorts bis hin zum Waffenrecht, Polizei- und Ordnungsrecht.
Heckers große Stunde kam nach der Flüchtlingskrise 2015. Während die Kanzlerin die Tore für Millionen von Flüchtlingen öffnete, wechselte der 1967 in Kiel geborene Jurist 2017 auf den damals neu geschaffenen Posten des Leiters der Abteilung Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik und wurde somit Chef des Koordinierungsstabes Flüchtlingspolitik im Bundeskanzleramt. Damit rückte Hecker auch in den Kreis derer, die Merkel damals gegebenes Versprechen, „Wir schaffen das“ in die Tat umsetzen musste. Während die Kanzlerin ob ihrer Politik der offenen Türen viel kritisiert wurde, war es neben Peter Altmaier, dem früheren Kanzleramtschef und Armin Laschet eben auch Hecker, der fest an Merkels Seite stand. In dieser Funktion war Hecker, der von 1995 bis 2002 Mitglied der SPD war, so etwas wie Merkels erster und wichtigster außenpolitischer Berater. Wie sehr ihn die Kanzlerin schätze, zeigt, dass sie ihn bei Auslandsreisen immer als versierten Berater an ihrer Seite hatte. Noch im Juni begleitete er die Kanzlerin beim G7-Gipfel zu einem Acht-Augen-Gespräch mit US-Präsident Joe Biden. Der Professor, der auf keine karrieretypische Diplomatenlaufbahn verweisen konnte, hatte im Bundeskanzleramt den Ruf eines ausgezeichneten Intellektuellen: „Sein Pflichtbewusstsein, seine menschliche und berufliche Kompetenz und tiefe Bildung waren herausragend“, schrieb sein früherer Vorgesetzter und damalige Kanzleramtschef Altmaier.
Mit der Besetzung des Spitzendiplomaten im Amt des Botschafters in China wollte Merkel am Ende ihrer Kanzlerschaft nicht nur einen Vertrauten in eine Schlüsselposition bringen, sondern auch ein Zeichen setzen, dass die Bundesrepublik in dem derzeit schwierigen Verhältnis zur aufstrebenden Großmacht China für Kontinuität sorgen will. Und genau für diesen gemäßigten China-Kurs stand Hecker. Das Außenministeriums der Volksrepublik hatte seine Ernennung ausdrücklich begrüßt und auf seine Nähe zur Kanzlerin verwiesen, die in den zunehmenden Spannungen Europas mit China einen eher zurückhaltenden Kurs vertritt.
Erst am 24. August hatte Hecker seine reguläre Arbeit in Peking aufgenommen. Nach zwei Wochen im Amt ist er nun verstorben, Todesursache derzeit noch unbekannt. Damit verliert die Kanzlerin nicht nur einen ihrer Getreuen, sondern auch einen Strategen, der Peking nicht verärgern will. Seit Jahren fährt Merkel einen Schlingerkurs gegenüber dem Reich der Mitte. Ein bisschen Kritik an Menschenrechtsverletzungen geht schon – aber nur so viel, dass sich der wichtige Handelspartner nicht zu sehr provoziert fühlt. So mäandernd Merkel Politik gegenüber den Chinesen war, immer endete sie dort, wo sie die Kanzlerin hinhaben wollte. Die CDU-Politikerin hat sich nie Illusionen über die Herrschaft von Präsident Xi Jinping gemacht, sie riskierte aber nie die deutschen Wirtschaftsinteressen. Einer von US-Präsident Joe Biden ausgerufenen Allianz demokratischer Staaten, die sich gegen China richten solle, entzog sie sich.
„New York Times“ spottet: Scholz sei der größte Langweiler
Stefan Groß-Lobkowicz6.09.2021Medien, Politik
Olaf Scholz hat ein klares Bekenntnis zu den Grünen formuliert. Sollten die Wahlumfragen, wie in den vergangenen Jahren so oft, dieses Jahr nicht völlig verkehrt liegen, wird Scholz neuer Kanzler. CSU-Chef Söder will Scholz aber dann beerben. Amerika hingegen lacht über die deutschen Personalien. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.
Die politische Landschaft in Berlin verschiebt sich. Nach 16 Jahren Angela Merkel und damit einer dauerpräsenten CDU will das Wahlvolk eine politische Trendwende. Und wie es derzeit in der politischen Berliner Republik aussieht, geht es in Richtung Rot-Grün.
„New York Times“ spottet: Scholz sei der größte Langweiler
Olaf Scholz, der SPD-Kanzlerkandidat, den sich derzeit – auch aus Alternativlosigkeit – viele Bundesbürger – auch als politische Zäsur als Nachfolger von Angela Merkel wünschen, hatte ähnlich wie Martin Schulz vor einigen Jahren im Schnellzug alle Konkurrenten aus dem Weg gerollt. Doch während Schulz vom ICE zur Dampflock wurde, scheint Scholz genügend Puste zu haben, um über die Ziellinie zu marschieren. Selbst über die Häme der „New York Times“ kann er nur müde hinweglächeln, die ihn vor einigen Tagen als größten Langweiler verspottete. Aus Amerika hieß es jüngst, dass diese Bundestagswahl so gar keinen Hauch von Spannung versprühe. Und der frühere US-Botschafter John Kornblum legte in der „Times“ nach: Es sei „aufregender, einem Topf kochendem Wasser zuzuschauen.“
Scholz ginge am liebsten mit den Grünen zusammen
Geht es nach dem ehemaligen Hamburger Regierungschef hätte er viele „Schnittmengen mit den Grünen“. Und so macht auch Scholz keinen Hehl daraus, dass er mit der Partei von Annalena Baerbock und Robert Habeck koalieren möchte. Während er den Grünen geradezu eine Liebeserklärung in der liebenswert nüchternen Art wie es einen Norddeutschen eigen ist, macht, sieht er hingegen viele unverhandelbare Punkte gegenüber der LINKEN. Mit den ihren Spitzenkandidaten Janine Wissler und Dietmar Bartsch will Scholz wohl nicht koalieren. Die jüngste Weigerung der Linken-Abgeordneten im Bundestag, dem Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Kabul zuzustimmen, bezeichnete er als „schlimm“. Die Mehrheit der Linken-Abgeordneten hatte sich enthalten, es gab aber auch einige Ja- und Nein-Stimmen. Seit einigen Jahren schon ist die SED-Nachfolgepartei in der Bredouille. Auch im Wahlkampfjahr schwächelt sie und der Einzug in den Bundestag höchst ungewiss. Die alten Kader und Funktionäre sind tot. Der Expansionskurs als Überlebensanker in den Westen ist gescheitert und die eher auf Opposition eingestellten Ostdeutschen wählen immer noch nicht das Establishment, sondern die politischen Aufmischer, die AfD. Während der kühle Scholz gegenüber Links reserviert bleibt, macht ihm die Linkspartei dagegen eine Liebesoffensive nach der anderen. Man hofft nicht nur in Thüringen auf eine Regierungskoalition mit SPD und Grünen. Ja, geht es nach Linken-Chefin Susanne Henning-Wellsow stehen die Chancen für ein entsprechendes Bündnis auf Bundesebene so gut wie noch nie. „Wann, wenn nicht jetzt?“ Wie die „Frankfurter Sonntagszeitung“ berichtet, sollen von Wissler und in einem Regierungsprogramm konkrete Eckdaten für mögliche Koalitionsverhandlungen bereits vorliegen. Auf der Agenda der Linken stehen Mindestlohn, Rentenerhöhung, die Abschaffung von Hartz-IV, eine Kindergrundsicherung sowie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels.
Ginge es nach Scholz wäre ihm eine rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl am liebsten. Wie er betont, hätten beide Parteien „unterschiedliche Zielsetzungen, aber wir haben viele Schnittmengen.“ Anders als mit Bartsch und Co könne er mit den Grünen ein klares Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft und zur NATO bekennen, sagte Scholz. „Er muss sich bekennen zu einer starken, souveränen Europäischen Union und dazu, dass wir solide mit dem Geld umgehen, dass die Wirtschaft wachsen muss“, fügte er hinzu. Diese Anforderungen seien unverhandelbar. Mit dieser Haltung unterstützt Scholz die SPD-Chefin Saskia Esken. Sie hatte der Linken die Regierungsfähigkeit abgesprochen.
Laschet kommt nicht aus dem Tief und Söder wird nach Scholz Kanzler
Am Donnerstag hatte Armin Laschet sein Zukunftsteam vorgestellt. Die Personalien jedoch wollten nicht richtig überzeugen. Bis auf Friedrich Merz keine bekannten Gesichter. Auch war und ist nicht klar, was der CDU-Chef mit seinen vier Frauen und vier Männer-Team eigentlich bezweckte? Mögliche Minister? Wohl eher nicht, denn das würde die amtierenden, die überhaupt im Zukunftsteamteam keinen Platz haben, brüskieren. Wo bleibt der Unterstützer Jens Spahn, wo Annegret Kramp-Karrenbauer oder Peter Altmaier? Statt festen Größen – ein Heer von Unbekannten, denen von Seiten der Union auch nicht zugetraut wird, die großen Herausforderungen der Zukunft, Klimawandel, Energiewende, Migration und Digitalisierung irgendwie aus dem Boden zu stemmen. Auch ist die amtierende Ministerriege von Laschets Vision der Zukunft sicherlich eher brüskiert als wirklich erfreut. Er tritt damit jedem einzelnen so richtig vor den Kopf.
Während also Laschet weiter laviert, bereitet sich der Löwe aus Bayern, CSU-Chef Markus Söder auf den nächsten Wahlkampf bereits vor. Wird das Tor 2021 in das Netz von SPD und Grünen, möglicherweise zusammen mit der Linkspartei oder den Liberalen um Christian Lindner gehen, Söder will auf alle Fälle der nächste Kanzler nach Scholz werden.
Und Scholz kann derzeit auf einen komfortablen Vorsprung bauen. Laut aktuellen ARD-Deutschland-Trend kommt die SPD auf 25 Prozent und die Grünen auf 16 Prozent. Sollte es nicht für eine Regierung nur aus SPD und Grünen reichen, wird Scholz die Ampel-Koalition mit der FDP anstreben. Christian Lindner kommt damit in die komfortable Position, wieder einmal das Zünglein an der Waage zu sein. 2017 beendete der FDP-Chef die Verhandlungen zur Jamaika-Koalition mit den mittlerweile legendären Worten: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Das sich ein 2017 wiederholt ist unwahrscheinlich, gleichwohl Lindner mit Armin Laschet in Nordrhein-Westphalen eine stabile Regierungskoalition hält.
In Mali könnte die Bundeswehr wie in Afghanistan scheitern
Stefan Groß-Lobkowicz4.09.2021Medien, Politik
In Afghanistan ist die Weltgemeinschaft kläglich gescheitert. Trotz vieler Warnungen aus Kabul hatten die Regierungschefs zu spät reagiert und die mögliche Machtübernahme durch die Taliban unterschätzt. In Mali könnte der nächste militärisch-politische Gau drohen. Das afrikanische Land ist politisch ähnlich instabil und auch dort wollen Islamisten das Ruder an sich reißen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Eklatantes Politikversagen auf internationaler Ebene – das bleibt das beschämende Resümee des gescheiterten Afghanistaneinsatzes. Nach der Niederlage am Hindukusch stellt sich nunmehr denn je die Frage nach Sinn und Zweck von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Wie die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer betonte, müsse „man aus diesem Einsatz“ Lehren ziehen“. Und die CDU-Politikerin fügte hinzu: Man werde „die anderen Auslandseinsätze der Bundeswehr dahingegen prüfen, ob wir gut aufgestellt sind. Fakt ist jedenfalls: Wie einst in Afghanistan ist der Einsatz der Bundeswehr in Westafrika besonders gefährlich.
Ein weiteres Scheitern könnte drohen
Nach der internationalen Pleite am Hindukusch rückt nun der Mali-Einsatz der Bundeswehr zunehmend in den Fokus des öffentlichen Interesses. Die Befürchtungen sind groß, dass hier ein zweites Afghanistan droht. Und die Zeichen, dass die Truppe wieder Gefahr läuft, das Ruder aus der Hand zu geben, ist derzeit relativ hoch. Der unter US-Leitung geführte Afghanistaneinsatz kostete Deutschland, wie das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)“ bei einem „realistischen Szenario“ einschätze, zwischen 26 bis 47 Milliarden Euro. Auch der Einsatz in Mali verschlingt ebenfalls Unsummen an deutschem Steuergeld. Allein zwischen 2016 und 2020 gab Deutschland vor allem für Entwicklungsprojekte und zivile Stabilisierungsmaßnahmen in Westafrika und damit auch in Mail 3,2 Milliarden Euro aus.
Während Afghanistan kampflos den Taliban übergeben wurde, will die Bundeswehr ihr Engagement in Westafrika nun sogar verstärken. Eine wichtige Rolle bei der deutschen Unterstützung spielte der Wunsch, im Schulterschluss mit Paris die Handlungsfähigkeit der EU bei Kampfeinsätzen im Ausland zu stärken. Erst in diesem Jahr betonte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, SPD-Politiker Michael Roth, dass „in der Sahel-Region“ eine „gelebte europäische Teamarbeit“ auf der Agenda stehe.
Seit 2013 ist Deutschland an der UN-Friedensmission MINUSMA in Mali beteiligt. Der Einsatz gilt nach Afghanistan als derzeit gefährlichster der UN. Das belegen Anschläge der letzten Jahre. 2016 attackierten Extremisten das Hauptquartier der „European Union Training Mission Mali“ (EUTM). 2018 gab es einem Anschlag auf die Ferienanlage „Le Campement“. Im Februar 2019 wurde das Training Center an der malischen Offizierschule in Koulikoro von mehreren Angreifern mit Handfeuerwaffen und durch zwei mit Sprengsätzen präparierte Autos angegriffen. Erst Ende Juni 2021 gab es einen Anschlag, der auf das Konto der Al-Kaida nahen Gruppe „JNIM“ geht, die sich in einem Bekennervideo im Internet zum Attentat bekannte. Allein zwölf deutsche Soldaten wurden beim Attentat verletzt. Doch im Lande brodelt es seit Jahren, zudem bereitet das Klima bei Kampfeinsätzen große Probleme. Nicht nur unerträgliche Hitze und Staub bringt die Soldateninnen und Soldaten an die psychische und physische Belastungsgrenze, auch die Guerilla-Taktik der Islamisten bleibt eine beständige Bedrohung, die auch im Jahr 2021 dafür sorgt, dass die Lage weiter brenzlig ist – nicht zuletzt, weil die Islamisten permanent ihre Methoden und Angriffstaktiken ändern. Auch in Mali sieht sich die Bundeswehr mit einer „asymmetrischen“ Kriegsführung des islamistischen Gegners konfrontiert, genau wie bis zuletzt in Afghanistan. Dass die Lage in Westafrika permanent in Gefahr steht, aus dem Ruder zu laufen, mussten die Franzosen Anfang 2013 erleben. Nur durch einen massiven Kampfeinsatz der „Opération Serval“ gelang es, den Vormarsch islamistischer Terrorgruppen auf die Hauptstadt Bamako zu stoppen. Derzeit kämpft Frankreich mit 5100 Soldaten und seiner Anti-Terror-Einheit „Barkane“ gegen den transnationalen und islamistischen Terrorismus.
Lage wird immer bedrohlicher
Seit 2016 hat sich die Sicherheitslage in der westafrikanischen Sahel-Region drastisch verschlechtert. Dschihadisten und ethnische Konflikte destabilisierten nicht nur Mali, sondern auch die fünf Sahel-Staaten („G5“) Mauretanien, Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad. Doch anders als in Afghanistan setzt man in Afrika nicht auf „Provincial Reconstruction Teams“, sondern schwört nunmehr auf die so genannte „Stabilisation Platform“. Es sind nicht die Ortkräfte, die eine zentrale Rolle spielen, sondern die Befriedung und der Aufbau der Region soll durch Entwicklungsexperten wie der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit organisiert werden. So sehr das Auswärtige Amt aber die neue Strategie schon als Erfolg feiert, so einfach gestaltet sich die Lage dennoch nicht.
Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) beurteilt den Einsatz von Deutschen und Franzosen bereits jetzt schon als „erfolglos“. Wie Wolfram Lacher betonte, sei bereits die Koordination zwischen beiden Nationen im Krisengebiet schwierig. Während Paris nach den islamischen Anschlägen in Frankreich Härte im Kampf gegen den internationalen Terror zeigen will und eine Drohkulisse aufbaut, will das in den Bundeswahlkampf versunkene Berlin eher beweisen, dass es nun mehr internationale Verantwortung übernehmen kann. Dass die Mission heikel ist, unterschreibt auch Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel. Der Experte hatte den Afghanistaneinsatz als „hoffnungslosen Fall“ bezeichnet und gibt für Mali wenige Lichtblicke. „Wir sind dort, weil wir den Franzosen einen Gefallen tun wollen.“ Auch Christian Klatt, der das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in der malischen Hauptstadt Bamako leitet, betont: „Die Sicherheitslage im Land ist fragil. Zwei Drittel des Landes stehen nicht oder kaum unter staatlicher Kontrolle.“ Auch ein ehemaliger Kampfmittelbeseitiger der Bundeswehr, der in Afrika Sprengfallen entschärft hat, unterstreicht die sich immer weiter verschlechternde Sicherheitslage. „Die Aufständischen probieren sich aus, sie lernen dazu, verwenden mehr oder andere Sprengmittel.“ Je länger der Konflikt dauert, desto mehr lernen die dschihadistischen Aufständischen voneinander. Mittlerweile gebe es teilweise einen regelrechten Know-how-Transfer.
Ein Netzwerk aus Korruption beherrscht Afrika
Und tatsächlich regiert in Westafrika wie am Hindukusch ein Netzwerk aus Korruption, Kleptokratie, Tribalismus, Clans und Warlords. Und genau diese strategischen wie strukturellen Unübersichtlichkeit minimieren die Erfolgsaussichten. Die kritischen Stimmen stehen dabei diametral zu den Tönen, die aus dem Auswärtigen Amt kommen. Dort vertraut man auf die staatlichen Strukturen in Mali und betont, diese zu stärken, denn „Stabilisierung ist ein Kernbestandteil unserer Außenpolitik geworden“. Das sich Außenminister Heiko Maas (SPD) schon in Afghanistan blamierte und nicht zurücktrat, steht auf einem anderen Blatt.
Die Leitung der Bundeswehr macht erneut große Fehler
Erschwerend kommt für Bundeswehr mit einer derzeitigen Truppenstärke von knapp 1.000 Soldaten hinzu, dass sie immer öfter in das Visier von IS-nahen Dschihadistengruppen geraten, die ihr Waffenpotential und damit ihren hegemonialen Anspruch in den letzten Jahren durch improvisierte Bomben und Selbstmordanschläge wirkmächtig demonstrieren konnten. Aber anstatt Flankendeckung für die deutsche Truppe in Sachen militärischem Equipment zu geben, ist der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, vor einer zu schnellen Aufrüstung seiner Soldaten nicht überzeugt. Noch in einer Sitzung des Verteidigungsausschusses Mitte Juli 2021 hatte zwar Zorn davor gewarnt, dass die Islamisten in Afrika ähnlich wie die Taliban extrem gut militärisch ausgestattet sind, doch halte er es derzeit für vorschnell, auf bessere Panzer und bewaffnete Drohnen zu setzen. In Berlin fürchtet man, dass die Soldaten durch die Aufrüstung noch stärker zum Ziel von Angriffen werden könnten.
Mali als Vorposten für eine ungefilterte Migration
Am 7. Juli 2021 hat der deutsche Brigadegeneral Jochen Deuer die Führung über EUTM-Soldaten im westafrikanischen Land übernommen. Als multinationale Ausbildungsmission der Europäischen Union (EU) mit Hauptquartier der Hauptstadt Bamako versucht man die malischen Streitkräfte „Forces Armées et de Sécurité du Mali“ (FAMa) mit militärischer Grundlagenausbildung und Beratung dazu zu befähigen, gegen islamistische Milizen in der Region vorzugehen. Man setzt mit diesem Engagement darauf, „Instabilität und Gewalt einzudämmen und einem möglichen Staatszerfall der G5-Sahel-Staaten vorzubeugen“, so zumindest steht es in einem Dokument mit dem Namen „Strategische Ausrichtung des Sahel-Engagements“ der Bundesregierung. Nordafrika und die Sahel-Zone werden laut dem Papier als „geostrategisches Vorfeld“ Europas bezeichnet und damit als Vorposten für eine mögliche ungefilterte Migration. Wie wichtig der Bundesregierung, die von den Militär-Partnern eine enge Zusammenarbeit im Bereich Migration und Rückführung einfordert, diese Mission als Pufferzone für größere Migrationsbewegungen in Richtung Europa ist, bleibt in Anbetracht globaler Flüchtlingsströme im Zusammenhang von Wirtschafts- und Klimamigration allzu verständlich.
So sehr man der Mission in Mail Erfolg wünscht, die mangelnde Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten war bereits in Afghanistan ein Dauerthema. Galt am Hindukusch die Ausbildung einheimischer Truppen als Kern der „Exit“-Strategie – so ist diese gescheitert. Auch die von Deutschen in Mali ausgebildeten Militärs hatten sich 2021 erneut an die Macht geputscht und sowohl den Interimspräsident Bah N’Daw und Premierminister Moctar Ouane festgenommen. Er war bereits der zweite Putsch innerhalb eines Jahres. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der 38-jährige Oberst Assimi Goita Goita, der bereits Anführer der Putschisten im August 2020 war und jetzt neuer Interims-Staatschef ist. Allein diese Instabilität der von Deutschen mitausgebildeten Militärs stellt den gesamten Einsatz in Frage und zeigen dunkle Parallelen zum gescheiterten Afghanistaneinsatz.
Wie Christian Klatt von der Friedrich-Ebert-Stiftung betont, hätte ein „Abzug der internationalen Truppen“ auch in Afrika gravierende Folgen. „Die malische Armee hat unzureichende Ressourcen und Ausbildung, um für Stabilität zu sorgen.“ Sowohl die Bundesregierung, die noch amtierende Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer als auch Außenminister Heiko Maas müssen in Anbetracht der Instabilität nun überprüfen, „wie gut“ die Bundeswehr in Afrika tatsächlich aufgestellt ist. Irren sie sich bei der Einschätzung der Lage wie in Afghanistan erneut, droht ihnen nicht nur politisch ein Waterloo. Die Schlacht, die am 18. Juni 1815 rund 15 km südlich von Brüssel in der Nähe des Dorfes Waterloo stattfand, war bekanntlich die letzte Schlacht des französischen Kaisers Napoleon Bonaparte und beendete seinen Anspruch auf Weltherrschaft für immer.
Interview mit Hildegard Wortmann: Top-Managerin Wortmann: Die Zukunft bei Audi ist voll elektrisch
Stefan Groß-Lobkowicz3.09.2021Medien, Wirtschaft
„The European“ traf Hildegard Wortmann, Mitglied des Vorstands der Audi AG für Vertrieb und Marketing, zum Interview und sprach mit ihr über die großen Herausforderungen der mobilen Transformation.
Wie schaut Audi in die Zukunft?
Wir sind für die Transformation in der Automobilindustrie gut aufgestellt. Audi hat klar definiert, wie wir den Wandel vorantreiben. Bis 2025 bringen wir zwanzig voll elektrische Fahrzeuge auf den Markt. Aber wir investieren nicht nur in die Flotte, sondern weiter in die Ladeinfrastruktur und bauen das Netzwerk aus. Der „e-tron Charging Service“ hat heute schon 255.000 Ladepunkte in Europa. Das gilt ebenso für die USA und China. Wenn man die gesamte Wertschöpfungskette neben dem Auto betrachtet, bleiben die Audi-Werke sehr stark im Fokus, wenn es um Innovation und Nachhaltigkeit geht. Im Werk in Brüssel, wo der e-tron gebaut wird, sind wir seit 2018 CO-2-neutral. Bis 2025 werden alle unsere Werke CO2-neutral sein und bis 2050 wollen wir die gesamte Dekarbonisierung in unserem Unternehmen umgesetzt haben.
Dieser Plan ist in klaren Investitionen belegt. So werden wir siebzehn Milliarden in die Elektromobilität bis in das Jahr 2025 investieren. Dies zeigt unsere offensiv-definierte Haltung, dass für uns die Zukunft elektrisch ist. Und damit wird deutlich, dass die E-Mobilität der einzig wirksame Weg ist, um wirklich CO-2-Emmissionen zu senken. Diese Idee leben wir mittlerweile bei Audi.
Wir wollen Sie die Skeptiker der E-Mobilität überzeugen, ein Elektroauto zu kaufen?
Das gesamte ECO-System muss den Kunden überzeugen. Es reicht eben nicht, ein tolles Auto mit viel Reichweite und tollem Design zu produzieren, sondern es gehört das Gesamtsystem dazu. Und hier spielt die Ladeinfrastruktur eine entscheidende Rolle. Deswegen ist es wichtig, dass der Aufbau dieser Struktur, der derzeit noch einer Herkulesaufgabe gleichkommt, schnell in die Gänge kommt. Aber diese Aufgabe lässt sich nur bewältigen, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn sie zusammen an dieser Herausforderung gemeinsam arbeiten. Mit „Fit for 55“ gibt es sicherlich den nächsten Schub, der in eine vernünftige Richtung weist. Wir sind bereits auf einem guten Weg, aber es gibt noch viel zu tun.
Was wünscht sich Audi, was die Politik besser machen könnte?
Die Politik ist für uns wichtig, um stabile Rahmenbedingungen zu definieren. Wir können als Unternehmen mit Milliarden-Investitionen nur funktionieren und langfristig erfolgreich sein, wenn wir diese von der Politik gewährleistet bekommen. Je klarer man sich dabei zum Thema der E-Mobilität der Zukunft dort äußert, desto besser ist es für unser Unternehmen. Was wir uns wünschen, wäre natürlich mehr Unterstützung seitens der Politik mit Blick auf die nationale wie internationale Ladestruktur. Und generell: mehr Unterstützung für all die Themen, die wirklich dazu beitragen, den Klimawandel zu stoppen
Thema Lieferketten. Was gibt es hier für Probleme?
Wir sehen beim aktuellen Chipmangel, dass unterbrochene Lieferketten tatsächlich ein großes Problem sind. Dennoch: Wir haben gerade das erste Halbjahr 2021 abgeschlossen und dieses war das erfolgreichste in der der Geschichte von Audi. Insgesamt 982.000 Fahrzeuge konnten wir – trotz Coronapandemie – an unsere Kunden ausliefern. Es ist dennoch gerade– im Hinblick auf den Chipmangel – eine schwere Zeit, derzeit die Fahrzeuge rechtzeitig an den Kunden zu übergeben. Ohne die vielen Hände der Audi-Mitarbeiter wäre dies nicht möglich.
Viele in der Autobranche haben Angst ihren Job zu verlieren, ist das eine berechtigte Angst?
Wir haben bei Audi Beschäftigungssicherung bis 2029. Aber entscheidender ist die Frage wie wir in neue Zukunftsfelder investieren: Wie stellen wir uns auf die Transformation ein, wie stellen wir sicher, dass wir die richtigen Kompetenzen weiterbilden? Wir haben derzeit unglaublich viele Umqualifizierung- und Qualifizierungsprogramme in der Umsetzung. Aber es gilt: Wir müssen alle gemeinsam mit auf die Reise nehmen. Umqualifizierung, Ressourcen und Kompetenzen sind aufzubauen – und das ist die große Herausforderung vor der wir derzeit bei Audi stehen.
Fragen: Stefan Groß
Interview mit Monika Schnitzer: Wirtschaftsweise Schnitzer: Nur eine Pflichtversicherung wäre solidarisch
Stefan Groß-Lobkowicz2.09.2021Medien, Wirtschaft
Wir leben in unruhigen Zeiten. Corona und Umweltkatastrophen bestimmen unseren Alltag. Doch wie lassen sich die großen Transformationen bewältigen, fragt „The European“ die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer.
Wir verschulden uns in mit der Klimakrise und durch die Pandemie. Wer soll die Zeche bezahlen?
Wir haben neue Schulden gemacht. Dies war notwendig, weil wir Hilfsmaßnahmen zu stemmen hatten, um den durch die Einschränkung betroffenen Unternehmen zu helfen. Die Frage bleibt, wie wird das am Ende wieder zurückgezahlt? Am Beispiel der Finanzkrise lässt sich ein möglicher Ausweg verdeutlichen. Damals hatten wir eine Schuldenquote von achtzig Prozent. Innerhalb von zehn Jahren konnten wir diese durch eine gute Haushaltsdisziplin auf sechzig Prozent reduzieren. Gleichzeitig hatten wir eine gute konjunkturelle Phase und sind aus diesen Schulden herausgewachsen. Ich denke, dies ist die Chance, mit der wir auch die Pandemie schultern können. Derzeit haben wir keinen vergleichbaren Schuldenstand bzw. eine Schuldenquote wie während und nach der Finanzkrise 2009. Aktuell liegen wir bei 70 Prozent. Aber wir sind gut finanziert in die Krise hineingegangen und werden aus dieser auch herauskommen, wenn wir dafür sorgen, dass wir das Geld auch richtig ausgeben. Daher müssen wir so investieren, dass wir die Wachstumskräfte befördern, damit wir eine Wachstumsphase wieder bekommen.
Was ist bei der Flutkatastrophe im Sommer in vielen Orten Deutschlands falsch gelaufen? Warum kam es zu einem solchen Ausmaß an Schäden?
Wir müssen uns auf solche Katastrophen immer häufiger auftreten, einstellen. Das sind Folgen des Klimawandels – und darauf müssen wir in Zukunft sowohl bei der Bebauung als auch bei der Bewirtschaftung der Flächen Rücksicht nehmen. Wir müssen mehr in die die Vorsichtsmaßnahmen, also in Hochwasser- und Katastrophenschutz investieren. Diese Anpassungen müssen wir leisten. Wenn wir hier nicht frühzeitig viel Geld in die Hand nehmen, werden erneute Umweltkatastrophen noch teurer. Es gilt also das Gebot der Vorsorge.
Diskutiert wird auch nach der Katastrophe über eine Pflichtversicherung. Wie sinnvoll ist diese?
In einem solchen Fall ist eine Pflichtversicherung eine gute Lösung. Denn nach einer solchen Katastrophe wird oft nach dem Staat gerufen und man setzt darauf, dass der Staat helfen wird. Damit aber hat der individuelle Haushalt keinen Anreiz mehr, eine solche Versicherung zu kaufen. Wenn wir wollen, dass durch Versicherungen solche Fälle abgedeckt werden, müssen wir dafür sorgen, dass alle versichert sind, damit am Ende nicht der Staat einspringen muss, um diese Rettungsmaßnahmen zu unterstützen. Die Solidarität, die wir nach der Katastrophe erlebten, wird durch die Pflichtversicherung vor diese geholt. Wir sind dann alle solidarisch, wir tragen alle zu dieser Versicherung bei, um vor eventuellen Schäden gewappnet sein. Hinzu müsste ein Element hinzutreten, dass die Anreize entsprechend berücksichtigt. Die Risikoprämien müssen nach der Höhe des Risikos gestaffelt sein. Ich muss schon einen Anreiz haben, nicht an einer Stelle zu bauen, wo das Risiko besonders hoch ist. Das muss durch gestaffelte Risiken aber im Einzelfall abgedeckt werden.
Die Schere zwischen armen und reichen Menschen wird immer größer – auch in und nach der Pandemie. Wer beispielsweise an der Börse investiert hat, ist jetzt der Gewinner, wer analog lebt und denkt, hat sogar womöglich seinen Arbeitsplatz verloren oder war in Kurzarbeit. Wie sehen Sie das als Wirtschaftsweise? Bleibt die Schere?
Durch die Pandemie ist die Schere größer geworden. Besonders schlimm war dies im Bildungsbereich. Wochenlang haben die Schulen keinen Präsenzunterricht geleistet, Kinder waren auf sich selbst gestellt. Und so sind es die Kinder aus den sozialschwächeren Haushalten, die besonders benachteiligt sind, weil sie nicht die adäquate technische Ausstattung und – auch familiär bedingt – oft nicht die richtige Unterstützung hatten. Der Bildungsabstand wird also in der Pandemie zwischen den Kindern aus sozial bessergestellten gegenüber denen aus ärmeren Haushalten nochmals größer. Jetzt geht es darum, den Kindern eine Chance zu geben, damit sie den in der Pandemie verpassten Bildungserfolg wieder aufholen.
Fragen: Stefan Groß
Interview mit Alexander Dobrindt. Dobrindt: „Ich sehe keinen weiteren Lockdown“
Stefan Groß-Lobkowicz1.09.2021Medien, Politik
„The European“ sprach mit dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag über einen möglichen neuen Lockdown und über die Deutschlandkoalition als charmante Variante.
Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Alexander Dobrindt, Foto: WEIMER MEDIA GROUP
Wir kommen wieder in einen Coronaherbst, die Inzidenz steigt, wiederholen wir die gleichen Fehler von 2020?
Von den gleichen Fehlern kann man nicht reden. Die Pandemie ist im vergangenen Jahr gut bearbeitet worden, aber man kann nicht mehr mit den gleichen Mechanismen wie 2020 wieder arbeiten. Wir haben deutliche Fortschritte beim Impfen – und das muss Auswirkungen haben. Es gilt der Grundsatz: Geimpfte, Getestete und Genesene müssen hin zur Normalität sich entwickeln können. Die 100 Inzidenz der Vergangenheit, die die Grenze für den Lockdown war, kann so keine Gültigkeit mehr haben. Vorsicht ist aber weiterhin angesagt. Es geht aber nicht nur um die Inzidenz, vielmehr gilt es auf die Hospitalisierung achten und den Fortschritt des Impfens zu betrachten. Ich sehe keinen weiteren Lockdown, aber ich sehe die Verantwortung, sich impfen zu lassen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Sie hegen kein besondere „Liebesbeziehung“ zu den Grünen. Wer Annalena Baerbock wählt, bekommt auch die „bucklige Verwandtschaft“.
Ich bin schon einmal froh, dass es kein automatisches Abo der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung gibt. Persönlich könnte ich einer Deutschlandkoalition von Union, SPD und FDP viel abgewinnen. Letztendlich wird es der Wähler entscheiden, aber diese Variante hätte durchaus Charme.
Es gibt neben dem offiziellen Wahlprogramm noch einen „Bayernplan“ der CSU. Darin fordern Sie Home-Office, aber dieses wird von Wirtschaft nicht unbedingt begrüßt!
Es geht um ein Programm, das nicht nur für die Menschen in Bayern Gültigkeit hat. Die gesellschaftliche Veränderung und das Home-Office hat sich für viele bewehrt. Die SPD will eine Home-Office-Plicht einführen. Das lehnen wir strikt ab. Aber wir wollen die Anreize erhöhen. Mir geht es darum, dass es eine Home-Office Pauschale, eine steuerliche Pauschale, die wir als CSU schon umgesetzt haben, auch bundesweit gibt. Diese wollen wir dauerhaft einführen, damit es steuerliche Anreize gibt, das Home-Office zu gestalten. Das ist der richtige Weg, also Anreize zu schaffen und nicht Vorschriften.
Die CDU ist etwas anderer Meinung was Steuersenkungen betrifft. Sie sind dafür. Wer soll denn eigentlich die ganze Zeche für den Klimawandel und die Coronakrise bezahlen?
Sowohl der CDU als auch der CSU geht es um Entlastung. Wir müssen Deutschland für den Wettbewerbung der Zukunft fit machen. Dazu gehört Wachstum und Dynamik. Diese schaffen sie nicht durch höhere Steuern, sondern durch Entlastung bei den Unternehmen, beim Mittelstand, aber vor allem bei den Familien und den alleinerziehenden Müttern. Da setzen wir mit unseren Entlastungen an.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat am 21. Juli eine Regierungserklärung abgegeben und den Klimaschutz sehr deutlich in den Vordergrund gestellt! Wie will die CSU die Klimaziele umsetzen, wenn man dies nicht wie die Grünen durch eine Verbotskultur realisieren will?
Das Klimaschutz eine der zentralen Herausforderungen ist, haben die meisten Menschen verstanden. Der Wille ist groß, dass man dort etwas unternimmt. Und dazu gehört auch, dass wir über die großen Fragen bei der Einsparung des CO2-Ausstoss und den früheren Ausstieg aus der Kohleaussteig noch einmal sprechen. Mir schwebt vor, dass wir über einen früheren Kohleausstieg reden, wenn wir neue Arbeitsangebote für diese Regionen anbieten können. Das wäre im Zuge unserer Souveränitätsoffensiver verbunden, wo es darum geht, Abhängigkeiten in der Welt zu reduzieren und Fehler der Globalisierung zu beseitigen.
Fragen: Stefan Groß
Darum bleibt Sebastian Kurz so hart bei der Migrationsfrage
Stefan Groß-Lobkowicz26.08.2021Europa, Medien
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Doch beim Koalitionspartner, den Grünen, macht sich Unmut breit. Doch warum verfolgt der Kanzler diesen radikalen Kurs? Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan keine Geflüchteten aus dem Land aufnehmen. „Ich bin nicht der Meinung, dass wir in Österreich mehr Menschen aufnehmen sollten, sondern ganz im Gegenteil“. Und er fügte hinzu: „Das wird es unter meiner Kanzlerschaft nicht geben“. Kurz, der seit 2019 eine schwarz-grüne Koalition führt, bekennt sich damit als konsequenter Hardliner in Sachen Afghanistanpolitik. Hintergrund für den ehemaligen österreichischen Staatssekretärs für Integration in der Bundesregierung Faymann I. ist die „besonders schwierige Integration“ dieser Bevölkerungsgruppe. „Menschen aufzunehmen, die man dann nicht integrieren kann, das ist ein Riesenproblem für uns als Land“. In einer Statistik des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat Österreich mehr als 40.000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen – die zweithöchste Zahl in Europa nach Deutschland mit 148.000. Damit, so Kurz, habe Österreich einen „überproportional großen Beitrag geleistet.“ Außer Frage steht dagegen für den ÖVP-Politiker, dass die radikal-islamistischen Taliban eine grausame Herrschaft anstreben können. Und genau deshalb will der Regierungschef die internationale Gemeinschaft mehr in die Pflicht nehmen, um die Situation im Krisen-Land zu verbessern. Allerdings müsse sich auch Österreich eingestehen, dass vieles in fremden Händen liege. „Es ist nicht alles in unserer Macht.“ Auch die neutrale Schweiz hatte die Aufnahme größerer Gruppen von Afghanen abgelehnt.
Mit seinem radialen Null-Flüchtlings-Kurs steht Kurz nicht allein da. So besteht ÖVP-Innenminister Karl Nehammer darauf, abgelehnte Asylbewerber ungeachtet der verheerenden Sicherheitslage weiter nach Afghanistan abschieben zu wollen. Den Vorschlag der EU-Kommission, Geflüchtete über die Umsiedlungsprogramme aufzunehmen, erteilte Kurz‘ Innenminister eine Absage. „Vorschläge, jetzt alle Menschen aus Afghanistan nach Europa zu holen, kann ich nur ganz entschieden verurteilen“. Sekundiert wird er von Parteikollege und Außenminister Alexander Schallenberg, der sich dafür ausspricht, Abschiebezentren in den unmittelbaren Nachbarstaaten Afghanistans aufzubauen. „Staatsbürger aus Afghanistan“ sollten in sichere Drittstaaten wie Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan oder den Iran als sichere Drittstaaten abgeschoben werden, hört man aus Wien.
Die Lage in Deutschland
Während sich die ÖVP-Ministerriege bei der Aufnahme von Flüchtlingen unerbittlich gibt und sogar weitere Abschiebungen fordert, fährt die deutsche Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock den gegenteiligen Kurs. Sie fordert Flüchtlingskontingenten in Europa, den USA und Kanada. Anders als Baerbock sieht das CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Im seinem ohnehin angeschlagenen Wahlkampf könnte ihn das Thema Migration endgültig das Genick brechen. 2015 dürfe sich nicht wiederholen, warnte er. Auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sprach sich für eine Aufnahme Geflüchteter in den Nachbarländern Afghanistans aus. Der Hoffnung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Ankara Flüchtlinge aufnimmt, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unteressen eine Absage erteilt. Man habe keinen Platz.
Wie verhalten sich Österreichs Grüne zum Kurs des Bundeskanzlers?
Während in Deutschland die Grünen die Union scharf attackieren, halten ihre Parteikollegen in der Alpenrepublik unterdessen weiter relativ still. Zu mächtig ist der Koalitionspartner. Für die Durchsetzung ihrer Klimapolitik übt die Menschenrechtspartei derzeit öffentlich wenig Kritik am Kanzlerkurs. Bis vor kurzem war es allein der Ex-Grünen-Chef und derzeitige Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der eine Mini-Rebellion wagte. Abschiebungen kritisierte er als „fehl am Platze“. Zudem stünden diese im Widerspruch zu der in der „Verfassung verankerten Europäischen Menschenrechtskonvention.“ Der grüne Bundesparteisprecher Werner Kogler hielt sich beim Thema der Flüchtlingsaufnahme hingegen bedeckt. „Ich kann Ihnen das genau noch nicht versprechen, weil wir ja nicht allein regieren.“ Doch zunehmend rumort es auch bei den Grünen. In Sachen Abschiebungen nach Afghanistan hat man am Montag der ÖVP eine Absage erteilt. In einem Statement schreiben die Koalitionspartner: „Österreichs Anstrengungen im Rahmen der EU müssen sich auf die Hilfe in Afghanistan, für eine Versorgung der Geflüchteten in den Nachbarstaaten und die sofortige Evakuierung all jener, die um ihr Leben fürchten müssen, konzentrieren. Europa trägt hier klar Verantwortung, die akut von Taliban-Gruppen gefährdeten Menschen wie Frauen, Kinder und Menschenrechtsaktivist*innen unbürokratisch Zuflucht zu gewähren.“ Damit wagen sich die Grünen erstmals aus der Deckung. Abschiebungen nach Afghanistan „kann und wird es nicht geben.“ Dass die Grünen jetzt Kante zeigen müssen, ist für ihr politisches Überleben wichtig. In den Umfragen fallen sie stetig. Ihre Wähler werfen ihnen einen wässrigen Kurs vor und selbst die eigene Basis droht, die Koalition nicht mehr mitzutragen. Die ehemalige Wiener Parteichefin der Grünen und Vizebürgermeisterin Birgit Hebein, die einst die grüne Koalition mitverhandelt hatte, zog nun die Notbremse und ist aus der Partei ausgetreten. „Die grüne Politik“ erreicht „nicht mehr mein Herz,“ schrieb sie.
Warum tickt Österreich hier anders?
Dass Sebastian Kurz im Fall von Afghanistan derart hart agiert, die Wiener SPÖ spricht gar von einer inhumanen Bundesregierung, hat seine Gründe. Erst am 2. November 2020 erschütterte ein Terroranschlag Wien. Vier Menschen kamen ums Leben, 23 weitere wurden teils schwer verletzt. Der damalige Attentäter war Sympathisant der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Acht Monate später, Anfang Juli 2021, hatten mehrere Afghanen ein 13-jährigen Mädchen mit Drogen betäubt, vergewaltigt und zum Sterben abgelegt. Schon damals betonte Kurz, dass es einen Abschiebestopp Richtung Hindukusch nicht geben werde. Kurz äußerte sich schockiert von der Vergewaltigung und betonte: Es sei untragbar, „dass Menschen zu uns kommen, Schutz suchen und solche grausamen, barbarischen Verbrechen begehen.“ Bereits damals hatte sich die ÖVP für schnellere Abschiebungen von kriminellen Asylbewerbern ausgesprochen. Zudem identifizierte man Migranten mit anderen kulturellen Werten als Gefahr. Seit mehreren Jahren fährt Kurz schon seinen Knallhartkurs in Sachen Migration und einer rigiden Schließung der Außengrenzen Europas. Anfang des Jahres 2016 sagte der damalige österreichische Außenminister, der maßgebend an der Schließung der damaligen Flüchtlingsroute Nummer eins, der Balkonroute beteiligt war: „Es ist nachvollziehbar, dass viele Politiker Angst vor hässlichen Bildern bei der Grenzsicherung haben. Es kann aber nicht sein, dass wir diesen Job an die Türkei übertragen, weil wir uns die Hände nicht schmutzig machen wollen. Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“ 2017 hatte Kurz die Schließung von islamischen Kindergärten befürwortet, da sich diese sprachlich und kulturell von der Mehrheitsgesellschaft abgeschottet hätten. Im März desselben Jahres kritisierte er die Rettungsaktionen von Hilfsorganisationen als „NGO-Wahnsinn“. Diese Hilfe führe dazu, dass mehr Flüchtlinge im Mittelmeer sterben anstatt weniger. Statt diese auf das italienische Festland zu bringen, sollte man sie in Flüchtlingszentren außerhalb der EU zurückzustellen. Auch das Integrationsgesetz vom Juni 2017 setzte neue Akzente: Rechtsanspruch auf einen Deutschkurs, Mitwirkungspflicht bei Sprach- und Wertekursen, Teilnahmeverbot an Koranverteilungskampagnen im öffentlichen Raum durch Salafisten. Ein Verbot der Vollverschleierung im öffentlichen Raum wurde im Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz geregelt. Das Integrationsjahrgesetz verpflichtete später subsidiär Schutzberechtigte, Asylberechtigte und Asylwerber zu gemeinnütziger Arbeit, die im Interesse des Gemeinwohls liegt.
Mit seiner derzeitigen Migrationspolitik, auch gegenüber Afghanistan, stellt der österreichische Bundeskanzler keine neuen Demarkationslinien auf, sondern setzt den Kurs fort, den er als Außenminister begonnen und als Bundeskanzler nun weiterführt. Sein konsequentes Interagieren in Sachen Flüchtlingspolitik hatte ihm nach der Flüchtlingskrise 2015 in der Bundesrepublik eine größere Anhängerschaft gesichert, die sich ihn sogar als deutschen Bundeskanzler wünschten.
Fakten
Seit 2002 war Österreich war Teil des internationalen Militäreinsatz in Afghanistan. Der Militäreinsatz erfolgte im Wesentlichen zwischen 2002-2005. Seit 2015 half das Bundesheer dann, die afghanische Armee auszubilden und damit gegen einen Angriff der Taliban zu wappnen. Im Februar 2002 war Österreich mit 75 Infanterie-Soldaten im Rahmen der Stabilisierungstruppe ISAF gestartet, 2004 wurde ein Infanteriekontingent mit bis zu 100 Soldaten zur ISAF entsandt. Aufgabe war die Sicherung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2005. Am 15. Januar 2015 wurde ISAF von der NATO-Mission RSM (Resolute Support Mission) abgelöst. Nach zwanzig Jahren Krieg am Hindukusch gab es kein einziges österreichisches Opfer. Am 18. Juni kehrte der letzte österreichische Soldat vom Hindukusch zurück.
Obwohl sich Österreich seit 1955 als neutral erklärt hat und sich damit eigentlich nicht in Kriege anderer Länder einmischt, wurde die Neutralität durch den EU-Beitritt am 1. Januar 1995 und durch weitere seither beschlossene neue Verfassungsbestimmungen de facto eingeengt. 1995 hatte das Land das „Rahmendokument“ der NATO-Partnerschaft für den Frieden „Partnership for Peace) (PfP) unterzeichnet. Seitdem arbeitet es im PfP-Rahmen mit der NATO und deren Mitgliedern zusammen, insbesondere bei friedenserhaltenden Operationen, in der humanitären und Katastrophenhilfe sowie bei Such und Rettungsdiensten.
Dieser Taliban könnte moderater Afghanistan führen
Stefan Groß-Lobkowicz23.08.2021Medien, Politik
Die Würfel sind gefallen. Afghanistan ist auf dem Weg in ein islamisches Kalifat. Doch wer wird künftig in Kabul regieren? Mit Mullah Abdul Ghani Baradar als möglichem Präsidenten wäre ein versöhnlicher Kurs sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik möglich. Schon jetzt gilt Baradar als das Gesicht der Taliban nach außen. Doch wer ist dieser Mann? Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Nach dem Siegeszug der Taliban muss nun die Macht im Land gefestigt werden. Der islamische Rechtsgelehrte und „Führer der Gläubigen“, Haibatullah Akhundzada, gilt bereits jetzt als die letzte und zugleich höchste Autorität, die über die politischen, religiösen und militärischen Angelegenheiten der Gotteskrieger entscheidet. Zum Stab der Top 7 einflussreichsten Männer, die die Fäden im Land in Zukunft ziehen werden, zählen Sirajuddin Haqqani, Sohn des bekannten Mudschaheddin-Befehlshabers Jalaluddin Haqqani und Leiter des Haqqani-Netzwerks, Mullah Mohammad Yaqoob, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und Militärstratege, Sher Mohammad Abbas Stanekzai, ehemaliger stellvertretender Minister in der Taliban-Regierung vor deren Sturz sowie Abdul Hakim Haqqani, Leiter des Verhandlungsteams der Taliban und ehemaliger Schattenrichter, der den mächtigen Rat der Religionsgelehrten leitet und dem der Fundamentalist und Hardliner Akhundzada am meisten vertraut. Ginge es nach Akhundzada wäre Afghanistan bald wieder ein islamisches Emirat mit Scharia und strikter Geschlechtertrennung.
Doch ein Mann lässt den Westen etwas hoffen. Der siebente Mann, der großen Einfluss auf die künftige Entwicklung des Landes nehmen könnte, ist der Stellvertreter von Emir Haibatullah Akhundzada. Beobachter sehen in Mullah Abdul Ghani Baradar, genannt der Bruder, gar den neuen Präsidenten des Landes. Der erfahrene Diplomat gilt schon seit längerer Zeit als politisches Oberhaupt der Fundamentalisten, die jedoch im schlimmsten Fall das Land in einen Gottesstaat zurückbomben und sich einen Ur-Islam aus dem Mittelalter zum Vorbild nehmen könnten. Die Scharia als Rechtsrahmen würde damit alle demokratischen Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre zunichtemachen und ein repressives Kalifat wie zwischen 1996-2001 errichten.
Wer ist der Mann, der etwas moderater ist?
1968 wurde Mullah Abdul Ghani Baradar in Uruzgan geboren. In den 1980er Jahren kämpfte er auf der Seite der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjets. Nachdem Rückzug der Russen 1989 gründete Baradar zusammen mit seinem ehemaligen Kommandeur und angeblichen Schwager Mohammad Omar eine Madrassa in Kandahar. Gemeinsam erweckten die beiden Mullahs die Taliban zum Leben, eine Bewegung junger islamischer Gelehrter, die sich der religiösen Läuterung des Landes und der Errichtung eines Emirats auf die Fahnen geschrieben hatten. Jahrelang war Baradar, der Durrani und Paschtune vom Stamm der Popalzai, Stellvertreter von Mullah Mohammed Omar und Mitglied der Quetta Shura. Der heute 53-Jährige hatte in den Jahren des Islamischen Emirats Posten wie das Gouvernement von Herat und Nimrus und darüber hinaus eine Reihe von militärischen und administrativen Funktionen inne. Als das Islamische Emirat von den USA und ihren afghanischen Verbündeten gestürzt wurde, war er, so eine Information von „Interpol“, stellvertretender Verteidigungsminister. Nach dem US-Einmarsch in Afghanistan 2001 floh er wie viele Gesinnungskrieger nach Pakistan und führte von dort die Quetta Shura – die neue Führung der Taliban im Exil. 2010 spürte ihn die CIA in Karatschi auf und überredete den pakistanischen Geheimdienst „Inter-Services Intelligence“ (ISI), ihn zu verhaften. Nach drei Jahren, 2013, hatte der pakistanische Nationale Sicherheits- und außenpolitische Berater Sartaj Aziz angekündigt, Baradar auf freien Fuß zu setzen, aber unter der Auflage, Pakistan nicht zu verlassen. Unter der Administration des damaligen US-Präsidenten Donald Trump wurde der Mann, vor dessen militärischen Kenntnissen sich die damalige Obama-Regierung mehr fürchtete als sie sich Hoffnungen auf seine vermeintlich gemäßigten Ansichten machte, am 25. Oktober 2018 endgültig in Pakistan freigelassen. Der Republikaner Trump propagierte damals eine Annäherungspolitik mit den Taliban und die USA sahen in Baradar immerhin einen moderaten Verhandlungsführer, der nach dem Abzug der amerikanischen Truppen vom Hindukusch einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Stabilisierung der Region leisten könne. So war es der Mann aus der Provinz in Zentralafghanistan, der am 29. Februar 2020 zusammen mit Mike Pompeo, dem damaligen Außenminister der USA, als Vertreter der Taliban in Doha den Abzugsplan der US-Truppen aus Afghanistan unterzeichnete. Das Abkommen von Doha, eine Art Nicht-Angriffsabkommen zwischen den Islamisten und den USA, wurde von der Trump-Regierung als Durchbruch auf dem Weg zum Frieden gefeiert. Damals hegte man in Washington noch den Traum, wie man die Macht zwischen den Taliban und der Kabuler Regierung von Ashraf Ghani teilen könnte. Seit seiner Freilassung und als Top-Verhandler gilt Baradar als das Gesicht der Taliban. Dieses Ansehen unter Trump hatte er sich während seines 20-jährigen Exils erarbeitet. Seitdem hatte er den Ruf eines starken militärischen Anführers und eines subtilen politischen Akteurs. Westliche Diplomaten sahen in der Person Baradar denjenigen Flügel der Quetta-Schura – der umgruppierten Taliban-Führung im Exil –vertreten, der für politische Kontakte mit Kabul noch am empfänglichsten war.
Versierter Verhandlungsführer
Bereits seit Mitte August 2021 hat sich Baradar als unbestrittener Sieger des 20-jährigen Krieges erwiesen. Zum Fall von Kabul betonte er, dass die eigentliche Bewährungsprobe für die Taliban erst jetzt beginne und es vorrangig darauf ankomme, der Nation zu dienen. Diese Worte aus dem Mund eines Islamisten stimmen optimistisch. Und Mullah Baradar betonte zugleich, dass der größte Erfolg der Islamisten seit den 1990er-Jahren zwar „unerwartet“ gekommen sei, aber immerhin das größte nur denkbare Gottesgeschenk darstelle. Nun gelte es, keine Arroganz zeigen. Vielmehr ginge es jetzt daran zu beweisen, wie man die Lebensumstände der Afghanen verbessere. Während eine Vielzahl der Taliban sich nichts mehr als einen Scharia-Staat mit allen nur denkbaren Repressionen für Frauen und Mädchen herbeisehnen, gilt der Paschtune eher als gemäßigter Vertreter. Dass Baradar offener ist und damit verhandlungsbereiter, zeigte sich schon nach dem Machverlust der Taliban 2001. So war er der politische Führer, der immer wieder Gesprächskontakte mit westlichen Vertretern und der afghanischen Regierung unter Hamid Karzai führte. Baradar galt als möglicher Partner für Friedensverhandlungen. Und er spielt seine Vermittlerrolle geschickt auf dem politischen Parkett aus, sei es bei einem Besuch in Peking oder davor in Teheran und mehrmals in Islamabad. Im März 2021 hatte eine zehnköpfige, hochrangige Delegation unter Leitung von Taliban-Vizechef Baradar an einer von Russland ausgerichteten Afghanistan-Konferenz teilgenommen. Bei dem damaligen Treffen mit Vertretern aus den USA, China und Pakistan ging es um eine friedliche Lösung des Afghanistan-Konflikts. Baradar weiß wie wichtig die Anerkennung durch regionale Mächte jetzt für die künftigen Geschicke der Gotteskrieger ist.
Baradar wird aber selbst als Präsident Afghanistans nicht das allerletzte Wort haben
Wenn Baradar Präsident im neuen Afghanistan wird, könnte sich das Land nicht derart radikalisieren, wie es derzeit von vielen westlichen Kritikern befürwortet wird. Immerhin stimmen selbst Kritiker zu, dass die Islamisten in den vergangenen 20 Jahren dazugelernt haben und politisch erfahrener geworden sind. Der deutsche Journalist und Buchautor, Boris Barschow, der als mehrmaliger Reservist jahrelang den Afghanistan-Blog betrieb und das Buch „Kabul, ich komme wieder“ schrieb, betont zum neuen Kurs der Taliban, dass diese nun „ihr Image wandeln und moderater auftreten“ möchten. Dazu zählt, dass sie seit Monaten keine Selbstmordattentate in afghanischen Städten für sich beansprucht hätten. Bei allem stecke derzeit die Strategie dahinter, dass die Taliban nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung regieren können, sondern vielmehr Zivilisten für ihren Kurs gewinnen müssen. Dazu zähle auch, dass die Islamisten nun erklärten, „mehr auf den Schutz der Zivilisten und auf Frauenrechte zu achten. Dennoch hält der Experte das Ganze für ein „Fassadenspiel“. „Die Taliban sind noch immer sehr brutal und es gibt Berichte, wie sie Zivilisten in Häusern suchen“.
Selbst wenn der gemäßigte Baradar an die Macht kommt, Akhundzada wird ihm nicht freie Hand gewähren. Zudem gibt es bei den Taliban immer noch mehrere Machtzentren. Bis dato hatte die politische Führung, die „Schura“ im pakistanischen Quetta und das politische Büro in Doha an einem Strang mit den oft blutrünstigen und fundamental religiös operierenden Feldkommandeuren gezogen. Ob das eine Garantie für die Zukunft ist, bleibt eine der noch vielen offenen Fragen am Hindukusch. Wenn sich aber, wie die Tage angekündigt, die
Taliban für die Unterstützung durch weitere terroristische Netzwerke entscheiden, kann man nicht davon ausgehen, dass das religiöse Regime gemäßigter wird. Dieser Gefahr wird nicht zuletzt dadurch Nährboden gegeben, da unterdessen der Chef des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Aiman al-Sawahiri, den Taliban seine Hilfe bereits zugesichert hat.
Afghanische Ortskräfte: Es grenzt fast an humanitäre Barbarei
Stefan Groß-Lobkowicz20.08.2021Medien, Politik
Sie waren das Rückgrat der Bundeswehr in Afghanistan. Tausende von ihnen unterstützten die Soldaten bei ihren gefährlichen Einsätzen und riskierten dabei ihr Leben. Doch nun lässt man viele von ihnen im Stich. Auf die militärische Pleite folgt eine humanitäre Katastrophe genau für diejenigen Menschen, ohne die der Militäreinsatz am Hindukusch undenkbar gewesen wäre. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Sie werfen Babys über den Flughafenzaun, klammern sich verzweifelt an die Rettungsmaschinen – die Angst der Ortskräfte vor der repressiven Macht der Taliban ist groß. Tausende fürchten harte Strafen, Peitschenhiebe, gar die Steinigung, wenn die Taliban ihr islamisches Kalifat endgültig errichtet haben. Von Friedrich Schillers aufklärerischer Vision, dass „alle Menschen Brüder werden“, ist derzeit buchstäblich nichts in Afghanistan zu spüren. Vielmehr herrscht überall die Angst, überhaupt zu überleben. Dabei sind es die zigtausend afghanischen Ortkräfte gewesen, Einheimische, die den Deutschen halfen und die dadurch den Truppen am Hindukusch maßgebend den Rücken stärkten, um im Land demokratische Strukturen zu errichten. Ob Übersetzer, Köche, Lagerarbeiter, Reinigungskräfte – sie alle hatten ihr Leben für Geld, aber eben auch im Glauben an eine bessere Zukunft auf das Spiel gesetzt. Doch viele von ihnen werden blindlings ihrem Schicksal überlassen, dass für viele einem Todesurteil gleicht.
Viele von ihnen sind jetzt die Verlierer
Erst am Donnerstag hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betont: „Es ist vollkommen unbestritten, dass die Ortskräfte und ihre Familienangehörigen nach Deutschland kommen sollen, und dass es dafür auch eine moralische Verantwortung gibt.“ Was im Wahlkampf wie ein vollmundiges Versprechen klingt, geht an der Wirklichkeit radikal vorbei. Zwar sind bis zum Freitag mehr als 900 Ortskräfte ausgeflogen und einige von ihnen in der Erstaufnahme der Außenstelle der „Zentralen Ausländerbehörde“ im brandenburgischen Ort Doberlug-Kirchhain (Elbe-Elster) angekommen, doch das Hauptproblem ist, wie Ex-Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian betont, dass viele von ihnen gar nicht bis zu den rettenden Fliegern durchstoßen können. Weit vor dem Flughafen sperren die Taliban die Zugänge ab, Schüsse fallen, die Islamisten setzen Tränengas ein und verprügeln die Fliehenden. Wer es letztendlich bis an den Flughafen geschafft hat, darf oft nicht passieren. Amerikanische Soldaten lassen nur ihre Leute durch. Ortskräfte müssten nachweisen, dass sie tatsächlich für die Deutschen gearbeitet hätten – doch das ist oft ohne Visa und Pässe unmöglich. Immer wieder kommt es am „Hamid Karzai International Airport“ zu Missverständnissen: Obwohl Ortskräfte zu einer bestimmten Uhrzeit zum Flughafen gerufen wurden, war von deutscher Seite niemand am Eingang gewesen, um die Menschen zu evakuieren. Zudem wackelt inzwischen das Versprechen der Bundesregierung, Ortskräften in Afghanistan und deren Familien zu helfen und sie aus dem Land zu evakuieren. Zudem blockierten Afghanen, die keine Dokumente hätten, den Zugang. Wie die „Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) betont, will man jetzt nur noch die „Kernfamilie“ der Ortskräfte retten. Doch dazu zählen erwachsene Söhne für die GIZ nicht dazu. Aus Resignation, ihre Kinder nicht mitzunehmen, haben viele ihre Fluchtpläne unterdessen aufgegeben. Sie wollen nicht ohne ihre Kinder fliehen und nehmen den Tod bewusst in Kauf.
Im Angesicht der Tatsache, dass die Ortskräfte auf der Strecke bleiben und wie Personen zweiter Klasse behandelt werden, sagt viel über die fehlerhafte Afghanistanpolitik des Westens. Hilferufe des deutschen Botschafters wurden ignoriert, wie Grotian betont. Es sei zu einem guten Teil die Ignoranz des Westens gewesen, die jetzt womöglich denjenigen das Leben kostet, ohne die der Afghanistaneinsatz nie hätte funktionieren können. Bei jedem ausländischen hochrangigen Politiker, der sich mit Bildern aus der Krisenregion ins gute Licht rücken wollte, ohne die Ortskräfte, die das Land wie ihre Westentasche kennen, die die Soldaten vor Hinterhalten warnten und viele Leben retteten, wäre wenig gegangen. Die Ortskräfte waren nicht nur das quasi geopolitisch-strategische Rückgrat, die vielen Augen der Streitkräfte, sondern oft Freunde, enge Vertraute, mit den man Fußball spielte und von einer Zukunft träumte, die es so nicht mehr gibt.
Ex-Bundeswehrsoldaten sind frustiert – Ihre ehemaligen Helfer sitzen jetzt in der Falle
Viele Ex-Soldaten, die am Hindukusch ihr Leben riskiert haben und sicher in der Heimat gelandet sind, äußern sich brüskiert über den laxen Umgang mit den ehemals verbündeten Ortskräften. Sie wissen was sie selbst diesen Menschen zu verdanken haben, Menschen, die in der medialen Öffentlichkeit keine Stimme und kein Gesicht haben. Und die Aussage von Seehofer, „Ortskräfte sind keine Flüchtlinge oder Asylbewerber“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Westen eklatant gescheitert ist. Der Frust bei den deutschen Ex-Kämpfern ist groß. Wie der Leiter des „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e. V.“ Grotian im Gespräch mit dem „The European“ betonte, würden 80 Prozent der deutschen Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen. Dies ist eine traurige Prognose – und sie wäre vermeidbar gewesen. Derzeit gibt es noch keine Stimmen von geretteten Ortskräften, die ein Loblied auf die deutsche Außenpolitik singen, dagegen nur verzweifelte Hilferufe und die bittere Einsicht, dass man den Menschen außerhalb des Flughafens in Kabul nicht mehr helfen kann. Dabei hatte das Verteidigungsministerium bereits für den 25. Juni, vier Tage vor dem Ende des Bundeswehreinsatzes in dem Land, zwei Charterflugzeuge bei zwei spanischen Airlines organisiert. Doch dieser Einsatz scheiterte – wie vieles in Afghanistan – an einer langsam arbeitenden Bürokratie, an vielen Missverständnissen zwischen deutschen Ministerien. So konnten vom damaligen Bundeswehrstützpunkt Masar-i-Scharif nur wenige Ortskräfte in die Bundesrepublik ausgeflogen werden. Erschwerend kam hinzu, dass kein einziges Visaverfahren seit Juni begonnen hätte. Viele Ortskräfte hatten sich acht bis zehn Wochen lang in Kabul aufgehalten, um verzweifelt einen Weg in die Freiheit zu bekommen. Das Resultat ist, dass sie nun in der Todesfalle sitzen – und das ist für pragmatische Bundeswehrsoldaten letztendlich das Ergebnis einer falschen Politik.
Nach wie vor verschlechtert sich die Lage der Ortskräfte. Was nutzen Rettungsflieger, wenn man gar nicht an den Flughafen kommt, was nützen Mobiltelefone, wenn man die Leute nicht im Chaos erreichen kann? Für viele Ortskräfte bleibt als einzige Alternative nur noch die Selbstrettung übrig. Erschwerend kommt hinzu, dass die Taliban doch nicht so moderat agieren, wie sie in Pressekonferenzen bekunden. Mittlerweile fordern sie für jede Ortskraft der Deutschen, die sie zum Flughafen durchließen, einen hohen Preis – „bis hin zur Anerkennung ihres Kalifats“. Dass sich die Bundesregierung aber von den Fundamentalisten erpressen lässt, ist eher unwahrscheinlich. Damit wird es aber für viele Ortskräfte noch schwieriger, sich in Sicherheit zu bringen.
Söder fordert Konsequenzen für Außenminister Heiko Maas
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat bereits Konsequenzen für die politisch Verantwortlichen in Deutschland gefordert. Der CSU-Chef hatte sich auf einer Pressekonferenz nach der CSU-Präsidiumssitzung zur aktuellen Situation geäußert. In seinem Statement nahm der Politiker SPD-Außenminister Heiko Maas ins Visier. Zwar halte er derzeit nichts von Personaldebatten, aber: „Wir gehen davon aus, dass der Großteil der in der Diskussion stehenden Personen nach der Wahl nicht mehr für neue Amtsaufgaben zur Verfügung steht.“ Darauf werde man drängen – „insbesondere was den Außenminister betrifft“, schiebt Söder hinterher.
Moralisch äußert bedenklich, was sich derzeit in Afghanistan abspielt
Was sich derzeit in Afghanistan mit den Ortskräften abspielt, hat wenig mit Moral, aber viel mit Unzuverlässigkeit zu tun. Als man die Kräfte brauchte, gab man ihnen Schutz. Jetzt, wo das Land aufgegeben, von den Taliban überrannt wurde, werden sie oftmals im Stich gelassen. Das widerspricht nicht nur der Menschenrechtscharta, sondern auch einem moralischen Imperativ, alle Menschen gleich zu behandeln, seien es deutsche Staatsbürger oder eben afghanische Ortskräfte. Was jetzt regiert, ist nicht die Moral, sondern ein Utilitarismus, der nicht darauf abzuzielen scheint, die größtmögliche Zahl von Menschen zu retten, um das größtmögliche Glück zu garantieren. Man wird bei den Bildern aus Kabul den Gedanken nicht los, dass es sich bei der Behandlung der Ortskräfte dann doch um Menschen zweiter Klasse handelt, die man willfährig ihrem Schicksal übergibt. Aber eine Gesinnungsmoral, die nicht die Folgen ihrer Handlungen, auch der negativen, bedenkt, bleibt im höchsten Grad unmoralisch. Es ist unsere Pflicht, allen Ortskräften zu helfen, sonst werden wir nach dem militärischen Scheitern in Afghanistan auch moralisch noch unglaubwürdiger. „Es stände besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich gibt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, an die Ausübung der einfachsten gewendet würde“, hatte die mährisch-österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach einst geschrieben – Worte, die sich heute wieder bewahrheiten. Dramatischer allerdings beschreibt die Lage Imamin Seyran Ates. Die Moschee-Gründerin, Rechtsanwältin und Aktivistin spricht derweilen von „heuchelnder Politik“ und „falsch verstandener Toleranz“. „Ich kann der verlorenen Politik kaum zuhören.“ Und gegen die Bundesregierung schreibt sie: „Niemand kann und darf uns weismachen, dass sie es nicht gewusst haben. Und jeder Politiker und jede Politikerin, die es dennoch tun, sollten sofort aus dem Amt gehen.“ So viele Heuchler, Heuchlerinnen und Lügner habe sie in den vergangenen Jahren selten gehört. Bitterer kann eine Bilanz nicht ausfallen.
Taliban sind jetzt bewaffnet wie ein Nato-Staat
Stefan Groß-Lobkowicz18.08.2021Medien, Politik
Über Nacht wurden die Taliban zu einer der am besten ausgestatteten Islamisten-Miliz der Welt. Der Großteil der erbeuteten Waffen stammt aus den USA. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
„Die Entwicklungen der letzten Tage sind bitter und werden langfristige Folgen für die Region und für uns haben. Es gibt nichts zu beschönigen“, hatte SPD-Außenminister Heiko Maas noch am Montagabend getwittert. Und in der Tat hat die Weltgemeinschaft im Fall von Afghanistan kläglich versagt. „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, sagte am 11. März 2004 der damalige deutsche SPD-Verteidigungsminister Peter Struck. Geblieben ist davon nicht mehr viel. Mittlerweise sind die Taliban unter die Zähne bewaffnet und besser ausgestattet als mancher Nato-Staat.
20 Jahre nach Beginn des Krieges in Afghanistan als Reaktion auf die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York ist die Bilanz für die Weltgemeinschaft und insbesondere die Vereinigten Staaten erschreckend. Während die Militäreinsätze Operation „Enduring Freedom“ (OEF) den Terrorismus am Hindukusch beenden wollten, sollte die „International Security Assistance Force“ (ISAF) der UN und später der NATO das bis dahin herrschende islamistische Taliban-Regime absetzen, um gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung das Land zu stabilisieren. Rund 3.600 Soldaten und Soldatinnen der westlichen Allianz ließen bis 2020 bei den Operationen ihr Leben. Die Zahl der Opfer in der Zivilbevölkerung lag bei über 36.000. Fast 9.600 Soldaten und Soldatinnen aus 36 Nationen waren zuletzt Teil der Operation „Resolute Support“. Auch Deutschland war mit 1.300 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz und stellte damit die zweitgrößte Truppenstärke. Die Bundeswehr hatte mit ihren Ausgaben am Hindukusch nicht gekleckert. Die Verwaltungskosten für Personal, Wehrmaterial, militärische Beschaffungen sowie für Verwaltungsaufgaben beliefen sich im Jahr 2018 auf rund 313 Millionen Euro. Die USA hatten in den vergangenen Jahren Milliarden von Dollar ausgegeben, um das afghanische Militär mit dem nötigen Rüstzeug im Kampf gegen die Taliban auszustatten. Allein die Kosten für die Militärverwaltung beliefen sich im Zeitraum von 2001 bis 2013 auf rund 743 Milliarden US-Dollar.
Kampflos hatten die afghanischen Regierungstruppen kapituliert
Zehntausende afghanische Streitkräfte legten in den vergangenen Wochen ihre Waffen nieder. Mit dieser nahezu kampflosen Kapitulation der Regierungstruppen in vielen Orten des Landes sind jetzt Waffen und Ausrüstung in die Hände der Islamisten gefallen. Zwar gibt man sich in Kabul von Seiten der Taliban noch moderat, wie man den Wiederbau des Landes und das zivile Leben organisieren will, doch dass ausgerechnet die religiösen Fundamentalisten jetzt davon profitieren, dass die USA das afghanische Militär jahrelang aufgerüstet haben, ist ein Desaster für die gesamte Weltgemeinschaft.
Im Unterschied zu den Jahren 1996-2001 Jahren als das Taliban-Regime mit harter Hand regierte und militärisch eher einer Steinzeitarmee glich, sind die Gotteskrieger heute keine schlecht ausgerüstete Truppe mehr. Finanziert durch Drogengelder und durch Unterstützung aus Pakistan hatte aber erst die Übernahme des modernen amerikanischen Materials in den letzten Tagen den Extremisten starken Aufwind gegeben. Zwar konnten die Krieger bereits nach dem Abzug der sowjetischen Truppen auf ein Arsenal an Waffen zurückgreifen, doch dies ist nicht vergleichbar mit den Hightech-Waffen des 21. Jahrhunderts über die die ehemaligen Steinzeit-Krieger nun verfügen. Damals, in den 80er Jahren, hatte die Sowjetunion einen Stellvertreterkrieg um das kommunistische Regime des Landes mit den USA geführt, die im Kalten Krieg ihrerseits die von Pakistan aus operierenden Guerilla-Gruppierungen der Mudschaheddin unterstützten.
In Washington war man schon länger davon ausgegangen, dass die Taliban das US- Equipment der afghanischen Regierungstruppen erbeuten könne. Auch das Pentagon war bei seinen Planspielen auf dieses Szenario eingestellt – doch von der Schnelligkeit des Eroberungsfeldzuges letztendlich völlig überrascht. Zwar hatten die amerikanischen Truppen beim Abzug ihre „hochentwickelte“ Ausrüstung mitgenommen, aber Unmengen an Fahrzeugen, Schusswaffen und Munition sind nun in Islamistenhand. Hatte US-Präsident Joe Biden unlängst betont, dass die USA „unseren afghanischen Partnern alle Mittel zur Verfügung gestellt“ haben, profitiert vom „Worst-Case-Szenario“ letztendlich nun der militärische Gegner. Stolz posten die Islamisten auf ihren Online-Netzwerken Videos und Bilder, die sie bei der Übernahme ganzer Waffenlager und erbeuteter Fahrzeuge zeigen.
Gigantisches Waffenarsenal
Die Taliban, die Afghanistan wieder in einen Gottesstaat mit Scharia-Gesetzen verwandeln könnten, hatten bei ihrer Offensive im August 2021 eine Million Handfeuerwaffen und Milliarden Schuss Munition erbeutet. 99 Prozent der Kriegsfahrzeuge der afghanischen Armee wechselten den Besitzer. Ebenso sind mehr als 600 Schützenpanzer vom Typ M1117 und rund 8500 Humvees (Militär-Geländewagen) in den offenen Händen der Gotteskrieger gelandet. Darüber hinaus verfügen die Taliban über 150 geschützte Hightech-Fahrzeuge vom Typ „MaxxPro“. Auch die 100.000 aufgewerteten Geländewagen der afghanischen Polizei vom Typ Toyota Hilux und Ford Ranger fahren jetzt unter der Flagge der arabisch-sunnitischen Kämpfer. Dazu kommen rund 1000 Schützenpanzer, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus sowjetischen Beständen, die nun ebenfalls den rund 60.000 Gotteskriegern gehören. Doch nicht nur für den Bodenkampf sind die Taliban künftig gut gerüstet, auch die Luftfahrzeuge gingen komplett an die Islamisten über, die nunmehr über 68 leichte Kampfhubschrauber vom Typ MD 500 „Defender“, 19 brasilianische Bodenkampfflugzeuge vom Typ A-29 und bis zu 16 legendäre „Blackhawk“ Transporthubschrauber verfügen. Auch vier schwere Transportflugzeuge der Baureihe C-130 „Hercules“ und über 100 russische und sowjetische Transport- und Angriffshubschrauber (Mi-17 und Mi-24) kann das Islamistenheer nun sein Eigen nennen. Doch die größte Gefahr für das Aufflammen des internationalen Terrorismus stellt die Übernahme der afghanischen Drohnen-Flotte dar. In den letzten Tagen eroberten die Taliban mehrere Hightech-Exemplare vom Typ „ScanEagle“ des US-Herstellers Boeing.
Die Bundeswehr hatte immer wieder aufgerüstet – Diese Waffen gingen in das Kriegsgebiet
Am vergangenen Wochenende hatten die Taliban die Stadt Masar-e Scharif erobert. Dort war die Bundeswehr mit ihrem größten Feldlager außerhalb der Bundesrepublik jahrelang stationiert. Bis zu 5500 Soldaten der ISAF, darunter 2800 Soldaten der Bundeswehr nebst zusätzlichen Einheiten aus 19 weiteren Nationen, waren in „Camp Marmal (CM)“ stationiert. Ende Juni 2021 zogen dann die letzten deutschen Truppen ab, bevor sich am 14. August die afghanischen Truppen bei Masar-e-Scharif kampflos ergaben. Bereits davor hatte sich das 207. Armeecorps in der Provinz Herat ohne Widerstand ergeben. Am 16. August bombardierte die U.S. Air Force schließlich den Flughafen Masar-e Scharif sowie die darauf befindlichen Jets und Kampfhelikopter der afghanischen Armee, damit die Taliban diese nicht mehr nutzen können. Trotz dieser Zerstörungsaktion haben die Islamisten mehr Waffen denn je.
Die Bundeswehr hatte bereits unter Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) in den Jahren 2009 bis 2011 immer wieder militärisch am Hindukusch aufgerüstet. Zum Arsenal gehörten die „Panzerhaubitze 2000“, ein 55 Tonnen schweres fahrbares Artilleriegeschütz mit großer Feuerkraft, der 600 PS starke Schützenpanzer „Marder“, der es auf eine Spitzengeschwindigkeit von 65 Stundenkilometern brachte, das Kampffahrzeug „Eagle“ das speziell für Kriseneinsätze wie in Afghanistan zugeschnitten war und das bewaffnete Allzweck-Nutzfahrzeug Dingo, ein rund 8,8 Tonnen schwerer Transporter, der bis zu 100 Stundenkilometer schnell war und bevorzugt bei Patrouillenfahrten eingesetzt wurde. Daneben hatte die Bundeswehr noch zahlreiche weitere Spezialfahrzeuge im Einsatz, darunter den Transportpanzer Fuchs, den Späh- und Aufklärungspanzer Fennek und die gepanzerten Lastwagen Yak und Duro. Wie viele Waffen der Bundeswehr an die Hände der Taliban gefallen sind, ist bis dato aber unklar. Experten hingegen gehen davon aus, dass keine deutschen Waffen mehr am Hindukusch sind.
Vergleicht man das neue Waffenarsenal der Taliban mit dem Nato-verbündeten Estland, dann zeigt sich die ganze Überlegenheit der Islamisten. Während am Hindukusch 60.000 Kämpfer für das Scharia-System stehen, verfügt das estnische Militär gerade mal über 6.500 aktive Soldaten und 12.000 Reservisten. 785,7 Millionen USD lässt sich das Land seine Streitkräfte kosten.
Schon im Irak fielen viele Waffen des US-Militärs an den Islamischen Staat
Es ist aber nicht das erste Mal, dass Islamisten aus einem amerikanischen Truppenabzug profitieren. Als Mitte 2014 die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die Stadt Mossul im Irak überrannte, fielen Waffen und Fahrzeuge, die von der US-Armee beschafft worden waren, in die Hände des IS. Seitdem stärkt und verbreitet der IS von dort sein selbsternanntes Kalifat.
Ob die Taliban ihr neues militärisches Arsenal dafür nutzen, international ihre Macht auszubauen, Terrorgruppen wie Al Qaida mit Waffen zu beliefern und den internationalen Kampf fundamentalistischer Scharia-Kämpfer weiter zu unterstützen, bleibt abzuwarten. Bislang regieren die Pragmatiker in Kabul, doch radikale Kampfgruppenführer der Taliban könnten das Land wieder zu einem radikal-fundamentalistischen Gottesstaat machen, wo die Menschen- und insbesondere die Frauenrechte nicht mehr geachtet werden, so es keine kritische Presse, keine Schulbildung für Mädchen, keine Musik und kein Fernsehen gibt. Wo aber Steinigungen auf der Tagesordnung standen.
Biedenkopf: Ich habe auch so lange wegen der Enkel gearbeitet
Stefan Groß-Lobkowicz13.08.2021Medien, Politik
Sachsens früherer Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ist tot. Der CDU-Politiker war nach der Wende nicht nur der richtige Mann am richtigen Fleck, sondern einer, den die Sachsen liebevoll „König Kurt“ nannten. Unermüdlich hatte er bis in den Lebensabend hart gearbeitet – auch für seine Enkel. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Wenn es so etwas wie einen Politiker gab, der Ost und West nach der Wende aussöhnte, war es der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf. Nach der Wiedervereinigung hatten die Ostdeutschen zwar das Gängelband von Unfreiheit und Repression verloren, aber diese Freiheit oft mit Arbeitslosigkeit und einer großen depressiven Stimmungslage erkauft.
Nach 40 Jahren Stasi und real existierendem Sozialismus war es der 1930 in Ludwigshafen am Rhein geborene Jurist, Hochschullehrer und CDU-Politiker Biedenkopf, der vielen Menschen nach der Wende wieder Halt und vor allem Vertrauen und einen zukunftsoffenen Blick geschenkt hatte. In der entscheidenden Zeit der innerpolitischen Transformation, wo mit der Treuhand viele Arbeitslätze verloren gingen, die Mehrzahl der planwirtschaftlich-geführten, maroden Betriebe des SED-Regimes Bankrott anmeldeten, war Biedenkopf als Ausnahmepolitiker der Mann der Stunde. Von 1990-2002 regierte er fürsorglich den wirtschaftlich angeschlagenen Freistaat – und das auch vor dem Hintergrund, weil er ein innerlich starkes Gespür und eine Nähe zu den Menschen hatte, die ihn väterlich „König Kurt“ nannten. Sozialisiert wurde der Mann, der ein Faible für Modelleisenbahnen hatte, später am Chiemsee lebte, leidenschaftlich segelte und bis ins hohe Alter hinein in seiner Rechtsanwaltskanzlei am Ferdinandplatz anzutreffen war, im sächsischen Vorkriegsdeutschland. In der Residenzstadt Merseburg verbrachte er einen Teil seiner Jugend, besuchte das dortige Gymnasium. Und noch vor Übergabe der Region an die Rote Armee wurde die Familie, sein Vater war technischer Direktor der Buna-Werke, von den Amerikanern nach Hessen evakuiert.
Bevor „König Kurt“ den Freistaat nach der Wende in eine fast blühende Landschaft verwandelte, studierte er Rechtswissenschaften. München, Frankfurt am Main und Washington, D.C. waren Stationen eines Wissenschaftlers, der nach Promotion und Habilitation von 1967 bis 1969 Rektor der Ruhr-Universität Bochum wurde. 1990 kam er nach Sachsen zurück, war Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Sachsen wird fortan sein Leben bestimmen – und doch bleiben sie in der Elbmetropole Dresden lange Zeit Nomaden. Zuerst residierte das Ehepaar Ingrid und Kurt Biedenkopf in einem ehemaligen Gästehaus der Stasi und lebte quasi in einer Art Minister-WG. Eine Odyssee folgte und der letzte Umzug des Ehepaares war erst im April dieses Jahres.
Er wäre fast EU-Kommissionspräsident geworden
Politisch galt Biedenkopf in den 70er Jahren als enger Vertrauter des damaligen CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl. Bevor es zum Zerwürfnis mit dem späteren Altkanzler kam, war Biedenkopf von 1973-1977 Generalsekretär der CDU und von 1976 bis 1980 Mitglied des Deutschen Bundestag. Der politisch versierte Biedenkopf führte bis 1987 als Vorsitzender den CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen, legte den Posten aber zugunsten Norbert Blüms nieder. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1980 konnte er sich nicht gegen den damaligen Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau durchsetzen. 1984 wurde nicht Biedenkopf Präsident der Europäischen Kommission, sondern der französische Sozialist Jacques Delors. Ein Jahr vor der Wende hatte sich der politisch ambitionierte Hochschullehrer dann aus der Tagespolitik zurückgezogen, feierte aber nach zwei Jahren bei der sächsischen Landtagswahl ein überragendes Comeback. Am 14. Oktober 1990 holte er mit seiner CDU die absolute Mehrheit. 53,8 Prozent der Sachsen stimmten damals für den Mann, der seine Wurzeln in Osten des lang geteilten Deutschlands hatte. Die Bilanz von Biedenkopf in Sachsen ist mehr als eine Erfolgsgeschichte – bis heute regiert die CDU im Freistaat. Und das Biedenkopf dazu die Fundamente gelegt hat, steht außer Frage. Die Leistung, die der Politiker, der es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, seinem Land zu dienen, in der wiedervereinigten Republik erbrachte, lässt sich auch ob der Kritik an seinem Führungsstil und diverser Mietaffären nicht verleugnen.
Beim Atomausstieg folgte er nicht der Kanzlerin
Biedenkopf, der der CDU seine Karriere verdankte, ging nicht immer konform mit seiner Partei. 2011 forderte er zwei Tage vor der Abstimmung den Bundesrat auf, das Gesetz zum Atomausstieg abzulehnen. Buchstäblich zerpflückte er die Energiewende der Kanzlerin. Es sei ein politisches Abenteuer, „ohne Beteiligung der Partei einen neuen, angeblich alternativlosen und unumkehrbaren Weg einzuschlagen“ wetterte er 2011 und betonte das Merkels Energiewende „unbegreiflich“ sei. Damals hatte sich Biedenkopf auf die Seite des Bundespräsidenten Christian Wulff gestellt, der die Energiewende aus dem Kanzleramt harsch kritisierte. „Ich stimme mit dem Bundespräsidenten überein, dass es klug gewesen wäre, die Partei an diesem tiefgreifenden Kurswechsel zu beteiligen und sich für den neuen Weg deren Mandat zu sichern. Das gilt auch für die CSU. In Bayern werden 57 Prozent des Stroms durch Kernkraft erzeugt. Wie man nach dem Atomausstieg dieses Defizit aus eigener Kraft ausgleichen kann, muss intensiv diskutiert werden“, sagte Biedenkopf, der seit Januar 2011 eine Forschungsprofessur am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung innehatte.
Biedenkopf plädiert für offene Grenzen und sieht in der Migration eine Chance
Insbesondere ein Satz des damaligen Ministerpräsidenten Biedenkopf kursierte während der Flüchtlingskrise 2015. Im Jahr 2000 attestierte der Landesvater, dass die Sachsen „immun“ gegen rechtsextremistische Tendenzen sein. Es war eine Art Persilschein, die Biedenkopf seinen Landeskindern ausstellte. Später hatte er sich revidiert und von der „Mehrheit der Sachsen“ gesprochen, denn ganz so rund lief es nach der Wende nie mit Rassenhass und Ausländerdiskriminierung im Freistaat.
Doch anstelle von Migrationsfeindlichkeit und Ausländerhass hatte Biedenkopf selbst immer versöhnlichere Töne angestimmt: Im vergangenen Jahr hatte er sich für offene Grenzen ausgesprochen. Die Entwicklung, dass Menschen Grenzen in beide Richtungen überschreiten, lässt sich nicht aufhalten. Biedenkopf betonte: „Ich halte insbesondere auf längere Sicht nichts von der Schließung von Grenzen. Wir müssen auch wegen der veränderten demografischen Entwicklung für Migration offen sein, wenn auch unter bestimmten Bedingungen.“ Im Gegensatz zu vielen seiner CDU-Kollegen hatte Biedenkopf schon früh den Klimakampf auf seine Agenda geschrieben und daher in den vergangenen Jahren keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Fridays for Future-Bewegung und die Klimaaktivistin Greta Thunberg „bemerkenswert“ findet. Für den Wissenschaftler Biedenkopf, der mit dem Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel im Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft e.V. in Bonn war und der über die Leistungsfähigkeit europäischer Demokratien angesichts des demografischen Wandels forschte, birgt die Migration Chancen für das soziale Gefüge der deutschen Gesellschaft. „Die Zugewanderten und ihre Kinder bieten die Aussicht, das demografische Ungleichgewicht zwischen Jung und Alt längerfristig zu verringern“, betonte er 2016 und fügte hinzu: „Hier trifft sich unser langfristiges demografisches Interesse mit dem langfristigen ökonomischen Interesse der Flüchtlinge und ihrer Kinder.“ Der Jurist hatte die letzten Jahre Merkels Migrationskurs immer wieder unterstützt und zur schnellen Integration gemahnt. „Wir schaffen das, wenn wir uns alle gemeinsam anstrengen.“
Wir haben eine Verantwortung für unsere Enkel
Anstrengen, gemeinsam tragen – nicht aufgeben und kämpfen. Dafür steht letztendlich auch der gebürtige Pfälzer, der das vor der Wiedervereinigung wirtschaftliche blühende Industrieland Sachsen wieder auf Erfolgsspur geführt hat. Und auf die Frage, warum er bis ins hohe Alter so aktiv ist, schreibt er auf seiner Webseite: „In meinem Dresdner Arbeitszimmer hängt ein Foto. Es zeigt zwölf Erwachsene und zehn Kinder: meine Enkel und ihre Eltern. Fragen mich Besucher, warum ich fünfzehn Jahre nach dem üblichen Beginn des Rentnerlebens noch arbeite, der Hertie School of Governance in Berlin als Vorsitzender des Kuratoriums diene, Reden halte, Bücher schreibe und sonstigen Tätigkeiten nachgehe, dann deute ich auf das Foto: meiner Enkel wegen. Ich möchte nicht, dass sie eines Tages ihren Großvater in Haft nehmen für Entwicklungen, die sie unlösbaren Konflikten aussetzen, im eigenen Land und in Europa.“
Nun hat sich Kurt Biedenkopf verabschiedet, aber seine Enkel werden ihn mit Sicherheit nicht „in Haft“ nehmen.
Hubert Aiwanger lässt sich nicht verbiegen
Stefan Groß-Lobkowicz6.08.2021Medien, Politik
Der bundespolitische Wahlkampf plätschert vor sich hin. Wäre da nicht ein aufmüpfiger Niederbayer, der die ruhige See gewaltig in den Sturm peitscht. Hubert Aiwanger lässt sich nicht verbiegen und zeigt sich ungewöhnlich kampfesfreudig, wenn auch weiterhin impf-unwillig. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Hubert Aiwanger, bayerischer Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, spielt in Sachen Wahlkampf auf einer eigenwilligen Partitur. Während der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mittlerweile als Inkarnation eines schwarzen Grünen Bäume umarmt, Bienenvölker beschützt und sich in Sachen Berliner Hauptstadtpolitik fast mit CDU-Chef und Kanzlerkandidat Armin Laschet ausgesöhnt hat, fährt sein Mit-Steuermann in Bayern einen anderen Kurs. Inmitten der Wogen einer hochgepeitschten See, wo die eine oder andere Welle an die Brandung schlägt, will Hubert Aiwanger eben nicht so wie das der CSU-Chef will. Der Eigenbrötler Aiwanger und der geschickt sich inszenierende, auf Harmonie und Versöhnung nunmehr bedachte Klimaretter Söder, passen irgendwie nicht zusammen. Fast nach dem Vorbild der US-amerikanischen Filmkomödie von Gene Saks aus dem Jahr 1968 mit dem Komiker-Duo Jack Lemmon und Walter Matthau, sind sie eines der ungleichesten Paare der Bundesrepublik.
Ganz bayerische Land- und Mundart
Hubert Aiwanger, Bundes- und bayerischer Landesvorsitzender der Freien Wähler, kommt aus dem beschaulichen Ergoldsbach im niederbayerischen Landkreis Landshut. Und Aiwanger verkörpert einerseits ganz die ländliche Idylle, andererseits auch den Eigensinn der ländlichen Bevölkerung. Aiwanger ist genaugenommen eine Mischung aus Cowboy und Oppositionellen, der mit seinem Niederbayrisch so ganz Kante, Aufruhr und Unverkennbarkeit in Personalunion verkörpert.
Aiwanger hat ihn, den kantigen Geist, das Gespür für das, was seine Wähler und seine Heimat wollen. Doch versprüht er dabei nicht den Charme eines Großintellektuellen, der gediegen formuliert, sondern Aiwanger prescht hervor, buchstäblich wie ein herzoffener Bauer, der gerade aus seinem Stall an die frei geschalteten Mikrofone der Öffentlichkeit tritt und seine Welt in klaren, nicht geschliffenen, aber irgendwie in liebenswürdigen und vor allem glaubhaften Worten erklärt.
Der CSU-Chef maßregelt ihn gern
Aiwanger, der aufgrund seiner burschikosen, aufmüpfigen und so gar nicht elegant daherkommenden Art eher wie ein polternder Güterzug daherkommt, während Söder im ICE beschaulich durch die Lande reist, hat Söder aber was voraus: Kampfeskraft, Rauflust und einen Tick von Widerstand, der den bayerischen Sturkopf in seinem oft ungeschickten Auftreten sympathisch macht – und die Söder einst auch auf sich vereinte. Während Aiwanger mit der ungestümen Art eher wie eine Walze daher rauscht, ist der geläuterte Söder so ganz moderat-sonorig und versprüht die Gediegenheit eines Landesvaters. Dass beide dabei nicht auf Augenhöhe spielen ist klar. Söder sieht in Aiwanger eher so etwas wie den kleinen Spielgefährten, den er mal väterlich umgreift, weil er sich „Sorgen um ihn macht“, meist aber im Oberlehrerton auf seinen Platz verweist. Aber gegen einen allesgewaltigen Steinbock Söder im Sternzeichen war der Wassermann Aiwanger lange eher ein Luftikus, den man wie einen Tennisball mal beliebig in die Höhe und dann wieder fallen lassen konnte. Doch während Söder Aiwanger oft maßregelt und ans Gängelband nimmt, ist der Niederbayer in den letzten Jahren im politischen Amt gewachsen, ja erwachsen geworden. Alles bieten lassen, tut er sich schon längst nicht mehr.
Aiwangers große politische Ambition – Sehnsuchtsort Berlin
Aiwanger hat Ambitionen, große sogar. Er will nach Berlin und das als Chef der Freien Wähler bundesweit. Im Gepäck hat er keine romantischen Ideen und Flunkereien mit den Grünen. Statt einen starken Bund setzt er auf mehr Föderalismus, statt Bundesnotbremse, rigiden Corona-Maßnahmen und einem instrumentellen Gebrauch von Vernunft in Form von Imperativen der Freiheit pocht er auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das im Artikel 2.2. des Grundgesetzes garantiert ist. Kritik prallt an Aiwanger derzeit wie ein warmer Sommerregen ab. Vielmehr begibt er sich in die Spiel- und Wahlkampfarena und das mit einer fast verblüffenden Siegessicherheit. „Traditionelle Werte finden ja in der CDU nicht mehr statt, sondern nur noch grüner Mainstream. Dazu bedarf es der Freien Wähler, um dies zu korrigieren,“ erklärte er im Interview mit „The European“.
Aiwanger macht jetzt den Söder 2015
Aiwanger bleibt – trotz aller Kritik – auf Krawall gebürstet. „Völlig egal, ob jetzt einer mehr oder weniger geimpft ist,“ raunte Aiwanger neulich in die Runde. Und dass er ein bekennender Impfverweigerer ist, wird ihm jetzt zum Problem. Zwar sind die Freien Wähler (FW) mittlerweile in drei Landtage eingezogen, auf Bundesebene stehen sie immerhin über drei Prozent, Tendenz steigend.
Söder, der 2015 inmitten der Flüchtlingskrise einen der damaligen Migrationspolitik der Bundesregierung kontrafaktischen Kurs fuhr und mit Parolen flunkerte, die manchen AfD-Wähler gut in Richtung CSU hätten stimmen können, ist jetzt so ganz Staatsmann, gediegen und der harte Mann in Sachen Corona. Das dieser Kurswechsel in Richtung grüne Anpassungsfähigkeit nicht alle in der alten Strauß-Partei lieb sein kann, steht auf einem anderen Blatt. Und das Aiwanger jetzt gegen die CSU opponiert und Impfunwillige zu den Freien Wählern ziehen will, passt wiederum dem starken Mann aus Franken nicht.
Bröckelt die bayerische Koalition?
Inmitten eines vor sich hin plätschernden Wahlkampfes macht Aiwanger eigene Politik. Und das nicht zur Freude des bayerischen Koalitionspartners CSU und der Freien Wähler. Der CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Thomas Kreuzer, der starke Mann aus Füssen, ist brüskiert, will gar die Koalition überdenken und forderte Aiwanger auf, seine Rolle als stellvertretender Ministerpräsident noch einmal zu prüfen. Aiwanger betreibe „billiges Kalkül“ für den Wahlkampf. „Er muss sich überlegen, ob er stellvertretender Ministerpräsident bleiben kann,“ heißt es aus dem Maximilianeum.
Doch Aiwanger bleibt eisern, ignoriert die Vorwürfe von Söder, aus der CSU und aus den eigenen Reihen. Vielmehr reagiert er „schockiert, dass Leute in führenden Positionen über eine Impfpflicht reden“ und setzt weiter darauf, sich selbst nicht impfen zu lassen: „Die Gesamtgefechtslage ist für mich noch nicht deutlich genug.“ Aiwanger pocht vielmehr darauf, Corona-Tests weiterhin als ebenbürtig zu Impfungen zu behandeln: „Wir müssen neben dem Impfen das Testen weiterhin als Maßnahme akzeptieren. Zu sagen, Impfen ist die einzige Lösung und Testen wäre plötzlich nicht mehr sicher genug, das trifft nicht ins Schwarze.“
Wirtschaftsminister will sich nicht impfen lassen
Aiwanger hat sich bislang nicht impfen lassen und sieht auch keinen Grund dazu. Schon gar nicht will er sich von der CSU unter Söder unter Druck setzen lassen. „Für mich wäre der Druck nur gerechtfertigt, wenn ein Geimpfter sagen könnte, der Ungeimpfte schadet mir unzumutbar.“ Und: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine Apartheidsdiskussion kommen.“
Aus seinem privaten Umfeld habe er von Impfnebenwirkungen gehört, bei denen einem „die Spucke wegbleibe“. Überdies warnte er jüngst im Deutschlandfunk vor einer „Jagd“ auf Ungeimpfte. Die Bürger müssten „ohne Druck” und mit Fakten überzeugt werden. Bisher seien sie „teilweise nicht zu Unrecht verunsichert“.
Aiwanger schießt gegen die Grünen – Die machen „Mobbing gegen Männer“
Doch nicht nur in Sachen Impfverweigerung zieht der Ergoldsbacher einen Streifen am Horizont, der bei einer immerhin denkbaren schwarz-grünen Koalition, auf Missbehagen im politischen Berlin stößt. Den Grünen wirft er glattweg „Mobbing gegen Männer“ vor, ihre Gleichstellungspolitik sei selber diskriminierend. Und er fügte hinzu: Die Grünen sind zu einer Partei der Intoleranz geworden. „Bei denen muss man sich schon dafür entschuldigen, ein Mann zu sein.“ Und mehr noch: „Fleischessen verteufeln, kein Autofahren, Klima, Klima, Klima. Wir brauchen jedoch pragmatische Lösungen statt schlechtem Gewissen und Zukunftsangst.“ Auch gegen die Frauenquote poltert er und schlägt eine familiengezielte Förderung vor. Den Begriff „alte weiße Männer“ kolportiert er und bezeichnete diesen als „Rassismus in Reinform“.
Der Basta-Hubert
Während Armin Laschet im Schlafwagen nach Berlin rollt, der aber an immer mehr Baustellen halten muss, um überschwemmte Bahnstrecken und reparieren, und während Annalena Baerbock mit Schummeleien dennoch Punkte im Wahlkampf sammelt, ist Hubert Aiwanger derzeit einer, der Kante zeigt. Er will sich halt nicht impfen lassen – und Basta. Damit ist der Niederbayer im Konzert der Angepassten eine erfrischende Ausnahme, dessen Wesen es ist, „auch mal gegen den Strom zu schwimmen“ und Berlin so richtig aufzumischen.
Aiwanger bleibt Skeptiker
Eigentlich ist Aiwanger so etwas wie der junge Söder. Rebell, Aufrührer, Unangepasster, der irgendwie noch nicht zum Establishment gehört. Jetzt wirft ihm ausgerechnet Söder vor, dass er mit seinen Äußerungen am rechten Rand fischt. „Wer glaubt, sich bei rechten Gruppen und Querdenkern anbiedern zu können, verlässt die bürgerliche Mitte und nimmt am Ende selbst Schaden. Wer meint, in einem solchen Becken fischen zu können, der riskiert, darin zu ertrinken.“ Der Vorwurf, er sei ein Querdenker, der im leisen Ton die impfkritischen Parolen der AfD in den Wahlkampf schmeißt, ist ein Argument, das so nicht verfängt. Aiwanger ist vielmehr ein Naturbursche und so sozialisiert – und die setzen bekanntlich auf die Selbstheilungs- und Immunisierungskräfte der allgewaltigen Natur. Und aus Tradition ist Aiwanger in Sachen Impfen eher ein Skeptiker. Damit steht er letztendlich dann doch als Intellektueller – samt sprachlicher Hausmannskost – in einer großen Tradition. Die skeptische Sicht auf das Faktum ist eine ehrenwerte philosophische Denktradition, die alles erst einmal kritisch prüft, um dann möglichweise zuzustimmen. Von Xenophanes (567/2 bis ca. 480 vor Christus) über David Hume bis zu Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel reicht diese Tradition. Und Aiwanger, immerhin ein Mini-Philosoph, ist in Sachen Impfung bislang noch auf dem Pfad des Skeptikers. Sollten allerdings die Prämissen stimmen, wird auch er sich impfen lassen. Bis dahin aber macht er Opposition – und das ist die Einzige, die wir im ermüdenden Bundeswahlkampf haben. Dank Aiwanger führt zumindest der südliche Teil der Bundesrepublik so etwas wie einen Mini-Wahlkampf und das ausgerechnet in Bayern, wo Markus Söder den rigiden Hardliner in Sachen Impfung gibt. Dass das nicht in das Bild einer straken und unantastbaren CSU passt, ist klar. Aiwanger interessiert das nicht, der ist fast schon in Berlin. Seine Kritiker jedoch sehen das eher skeptisch.
Wissenschaftler: Corona wird nicht die letzte Pandemie in naher Zukunft sein
Stefan Groß-Lobkowicz4.08.2021Medien, Wissenschaft
„The European“ sprach mit dem Geschäftsführer Forschung & Entwicklung der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Jochen Maas, über Corona und über das pandemische Zeitalter. Wie der Wissenschaftler betonte, wird es nicht die letzte Pandemie sein.
Herr Professor Maas: Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter mit der Pandemie?
Wir werden die Pandemie mit Impfungen in den Griff bekommen. Ich glaube aber auch, dass wir wieder einen gleichen Anstieg der Inzidenzen bei Ungeimpften wie im vergangenen Herbst sehen werden. Dieser wird sicherlich im Oktober und November kommen, weil das Virus auch eine saisonale Prozessualität hat. Aber ich bin sicher, dass wir im Bereich Hospitalisierung und Todesfälle wahrscheinlich nicht mehr die Zahlen bekommen, die wir schon erreicht hatten. Dies liegt einfach daran, dass sich mittlerweile viele Menschen geimpft haben und damit auch zu über 90 Prozent vor schweren Krankheitsverläufen geschützt sind. Die Menschen werden seltener krank und stecken zu einem deutlich geringeren Maße andere an. Dieser Erfolg hängt aber davon ab, ob wir die Impfquote weiter erhöhen und die Impfskeptiker überzeugen. Und vor allem sollten wir die Jugendlichen einschließen. Nur so kommen wir letztendlich auf die 80 bis 85 Prozent Impfquote. Vielleicht haben wir dann die Pandemie womöglich besiegt.
Woran liegt es, dass sich viele Menschen nicht impfen lassen wollen. Ist das ein politisches, ein wissenschaftliches oder gesellschaftliches Problem?
Von der Wissenschaft gesehen, gibt es keinen Grund an Impfungen zu zweifeln. Wenn man die ganzen Infektionskrankheiten betrachtet, vor allem die viralen, so hatte diese die Wissenschaft fast alle über Impfungen in den Griff bekommen. Das fängt bei Polio, Pocken und Hepatitis an und geht bis Covid-19. Es ist eher ein gesellschaftspolitischer Grund oder ein Umstandsphänomen nicht zum Impfen zu gehen. So haben wir beispielsweise in Afrika deutlich höhere Impfquoten als in Deutschland und Frankreich.
Leben wir in einem pandemischen Zeitalter? Was sind die Ursachen dafür?
Wir hatten in der Vergangenheit signifikante Pandemien wie die Spanische Grippe 1917/1918. Aber auch im letzten Jahrhundert gab es immer wieder viele virale Erkrankungen, die auf den Menschen übersprungen gesprungen sind, die aber fast immer Epidemien geblieben sind, also lokal wie Ebola und Hantavirus begrenzt waren. Mit Sars-Corv-2 haben wir nunmehr eine weltweite Pandemie. Und diese wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Vielleicht wird die nächste erst 2026 kommen, vielleicht aber auch schon früher. Dass jetzt Pandemien verstärkt auftreten, hat seine Gründe: Einer der wichtigsten dürfte der sein, dass wir immer weiter in unerforschte und unberührte Gebiete vordringen. In diesen Gebieten gibt es Kreisläufe, wo sich ein Virus und ein Wirt aufeinander angepasst und miteinander verzahnt haben. Das klassische Beispiel ist Covid-19 und die Fledermaus. Wenn wir immer weiter in diese Gebiete mit unseren Rindern und Schweinen vordringen, kann es immer öfters passieren, dass solche Viren Grenzen überschreiten und von der Fledermaus auf Haustiere und den Menschen überspringen. Mit Blick auf diese Möglichkeiten bleibt die Vorbereitung das A und O. Was wir dazu brauchen, sind Gentechnik zur Herstellung neuer Impfstoffe und vernünftige Digitalsysteme, um letztendlich Infektionsketten nachverfolgen zu können. Und wir benötigen Schutzausrüstungen, die tatsächlich in großer Stückzahl vorhanden sein müssen.
Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) prüft gerade einen Impfstoff von Sanofi. Wie hoch ist die Wirksamkeit?
Wir haben in der Phase zwei mit nur 670 Probanden eine Wirksamkeit zwischen 95 und 100 Prozent gesehen. Das macht mich sehr zuversichtlich für die Phase 3, die derzeit mit 35.000 Probanden läuft. Ich rechne mit einer ähnlichen Wirksamkeit in der Größenordnung von BioNTech.
Was würden Sie den Impfgegnern entgegenhalten. Was kann man dieser Gruppe, die derzeit in Berlin sehr aktiv gegen die Corona-Politik der Bundesregierung protestiert und die ihre Anhänger quer durch alle Gesellschaftsschichten rekrutiert, entgegenhalten?
Die Impfgegner müssen drei Dinge im Kopf haben: Sie tun sich selber nichts Gutes, wenn sie sich nicht impfen lassen. Aber eigentlich handeln sie, um es hart zusagen, asozial. Zum Dritten sind sie mit verantwortlich, wenn das Virus sich verändert und wenn wir es nicht schaffen, die Virusausbreitung einzudämmen. Es gibt also drei Gründe, sich impfen zu lassen: a. der egoistische, man tut was Gutes für sich selbst, b. der soziale, man tut etwas Gutes für die anderen, und c. der wissenschaftliche: man verhindert die weitere Ausbreitung des Virus.
Sanofi ist ein Riesenkonzern mit über 100.000 Mitarbeitern. Welche Medikamente sind in ihrem Portfolio?
Das wichtigste Medikament, was wir gerade haben, ist Dupixent. Der Wirkstoff von Dupixent ist Dupilumab. Dupilumab ist ein monoklonaler Antikörper, der als Medikament zur Behandlung der atopischen Dermatitis angewendet wird. Wie haben aber auch nach wie vor unsere Insuline wie „Lispro“, die weltweit bekannt sind. Das sind unserer Blockbuster und sie werden es bleiben, weil es immer mehr Diabetiker weltweit gibt. Wir haben nach wie vor unsere Mittel gegen die Multiple Sklerose und unsere Impfstoffe gegen alle möglichen Viruserkrankungen sowie einen neuen Grippe-Impfstoff für Menschen über 60. Was uns auszeichnet, sind viele Medikamente gegen seltene Erkrankungen. Diese Erkrankungen sind oft außerhalb des Interesses anderer Pharmafirmen. Wir machen viel „Morbus Pompe“ für die Enzymersatztherapie und „Morbus Gaucher“ gegen Stoffwechselerkrankungen. Wir sind daher nicht unilateral aufgestellt.
Die Welt ist sehr differenziert in arm und reich. In vielen Teilen fehlen Medikamente. Was macht man von Seiten der Pharmaindustrie dagegen?
Was wir schon lange machen, sind Aids-Medikamente in Ländern, die besonders stark betroffen sind, zu ganz anderen Preisen abzugeben, als in Amerika oder Europa. Oft sogar zum Selbstkostenpreis. Auch bei Corona bleibt uns nichts anderes übrig, als alle vorhandenen Produktionskapazitäten zu 100 Prozent auszunutzen, um so schnell wie möglich 20 Milliarden Dosen Impfstoff produzieren zu können. Auch für künftige Pandemien wird es nötig sein, dass wir Industrien in diesen Ländern aufbauen. Sanofi hat bereits 30 Produktionsstätten in tropischen Ländern. Das ist gut. Aber was wir aber noch mehr brauchen, wäre ein Technologietransfer vor allem in diese Länder. Die Industrie ist auch bereit dazu. oft mangelt das Investment in diese Regionen aber an der gewisse Investitionssicherheit. Wenn es Länder gibt, wo jedes Jahr das Regime wechselt und die Regierungen von Korruption zerfressen sind, wird es für uns schwer, dort zu investieren und dort Produktion hinzubringen. Aber trotz dieser Schwierigkeiten, glaube ich, dass die Industrie auf dem guten Weg ist.
Fragen: Stefan Groß
Der Baerbock-Jäger Weber: Die Grünen kennen keine Streitkultur
Stefan Groß-Lobkowicz1.08.2021Medien, Politik
Kaum hatte der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber sowohl Ungereimtheiten in der Vita von Annalena Baerbock als auch über 50 Plagiate in ihrem neuen Buch „Jetzt“ festgestellt, wurde er als „Rufmörder!“, „Frauenverfolger!“, „Rechtsaußen-Sympathisant!“ stigmatisiert. Wer ist eigentlich dieser Mann, den die die großen Medien für seine Arbeit kompromittieren? Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Sein Name ist mittlerweile in aller Munde. Stefan Weber ist in. Von den einen ob seiner exakten Arbeit verehrt, all denen ein Dorn im Auge, die allzu schnell die Copy and Paste-Taste drücken und fremdes Gedankengut als ihr eigenen Ausgeben. Ob Prominente wie Karl Theodor von und zu Guttenberg, die Vatikan-Botschafterin und ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan, die FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis und Silvana Koch-Mehrin oder zuletzt SPD-Familienministerin Franziska Giffey – sie alle haben bewusst getäuscht und damit nicht nur die Wahrheit beschädigt, sondern auch den akademischen Titeln keinen Gefallen getan. Eine Promotion bleibt eine qualitativ wie quantitativ aufwendige Lebensleistung, die zumindest eines garantieren sollte: wissenschaftliche Glaubwürdigkeit, Ehrfurcht vor der Forschung und eigenständiges Denken.
Stefan Weber ist so etwas wie ein Perlentaucher. Nur was der 1970 geborene Kommunikationswissenschaftler, Publizist und Plagiatsgutachter meist findet, sind nicht Edelsteine, sondern Verschleierungen und Nebelkerzen. 1996 selbst zum Dr. phil. promoviert und am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien 2005 habilitiert, hatte er mehrere Lehraufträge im In- und Ausland inne. Doch so richtig zum Plagiatsjäger machte ihn buchstäblich das Abkupfern der eigenen Dissertation. Ausgerechnet ein Informatiker und Theologe der Universität Tübingen hatte weitgehend wörtlich aus Webers Dissertation von 1996 Passagen übernommen. Wenn es so etwas wie eine Initialzündung bei dem ebenfalls als Journalisten und Publizisten abreitenden Weber gab, war es dieses unerquickliche Plagiat. Daraufhin wurde der Wissenschaftler, der immer wieder kritisiert, dass die heutige Studentengeneration eine mangelnde Studierfähigkeit, auszeichne, zum Jäger, zum akribischen Detektiv mit dem feinsinnigen Gespür für das geschriebene und nicht gekennzeichnete Unrecht. Publikationen mit den klingenden Titeln wie: „Die Dualisierung des Erkennens. Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie“, „Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung“, „Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden“ oder „Die Medialisierungsfalle. Kritik des digitalen Zeitgeists“ stammen aus seiner Feder. Ein produktiver Geist – der Österreicher.
Etablierter Plagiatsjäger quer durch alle Parteien
Seit über zehn Jahren publiziert und kommentiert er in seinem Blog für wissenschaftliche Redlichkeit Plagiatsfälle, bietet kostenpflichtige „Lebenslauf-Screenings“ und „Plagiat-Checks“ an. Er begreift es als eine wissenschaftliche Verpflichtung, Täuschungen offenzulegen – da macht auch eine Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock keine Ausnahme. So war es Weber, der die Schummeleien bei Vita und Studienabschlüssen der Grünen-Politikerin als erster offenlegte. Ohne die akribische Leistung hätte Baerbock ihren Siegeszug ins Kanzleramt fortsetzen können. Doch Weber machte der im Frühling noch aussichtsreichen Kandidatin einen Strich durch die Rechnung – und wie er ausdrücklich betonte, ohne politisches Interesse oder eine Kampagne gegen die Partei zu fahren. Seitdem gilt er nicht nur in grünen Kreisen als Persona non grata, auch Teile der deutschen Presse haben ihn auf dem Kicker und wollen ihn abschießen.
In Österreich ist Weber hingegen kein Unbekannter. Dort stöberte der gebürtige Salzburger quer durch alle politischen Lager hinweg und entzauberte ganze Generationen mit Plagiatsvorwürfen. Ob Johannes Hahn (ÖVP), Grünen-Politiker Peter Pilz, ÖVP-Landesrat Christian Buchmann, SPÖ-Politiker Thomas Drozda – sie alle hat Weber quasi durchleuchtet. Ex-Ministerin Christine Aschbacher und zuletzt Peter Weidinger (beide ÖVP) wies er Ungereimtheiten oder „wiederholt geschickte Täuschung“ in ihren Diplomarbeiten nach. Viele von ihnen haben die Vorwürfe politisch nicht überlebt
Aber auch Institutionen standen im Visier des Jägers, sei es der Afghanistan-Gerichtsgutachter Österreichs wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit oder das Bundesinstitut für Risikobewertung „wegen seines Beitrags zum Wiederzulassungsbericht für Glyphosat in Europa“. Diesen Auftrag hatte der Plagiatsjäger sogar von der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament erhalten. Auch den Endbericht der Historikerkommission der FPÖ bezichtigte er 2019 als Plagiat.
Dass er sich mit seinen Plagiatsvorwürfen wenig Freunde macht, ist klar. Es ist ein undankbarer Job, eine Gratwanderung auf den Klippen, der Fall in die Tiefe und Einsamkeit vielleicht ein hoher Preis. Doch Weber macht weiter – Passion, Leidenschaft? Eher Wahrheitssucher a priori. Er weiß, er sitzt immer irgendwie zwischen den Stühlen. Ist er zu nachgiebig, rettet er möglicherweise Personen und Leben, aber verrät damit zugleich seine wissenschaftlichen Ideale. Aber er hat eine Mission und diese bleibt die Ehrlichkeit des Textes“ Daran will er nicht rütteln. Und wie Weber betont, sollte seine Arbeit honoriert werden und nicht mit Pauschalurteilen kritisiert und seine Arbeit als Wissenschaftler diskreditiert werden.
Die Grünen reagieren nicht wie eine Fortschrittspartei, sondern wie ein alter Parteiapparat
Im Fall, wie die Grünen und ihre Presseabteilungen mit den Plagiatsvorwürfen umgehen, sieht Weber das größte Problem des freiheitlichen Diskurses. Anstelle von Diskursfähigkeit reagierte man mit einer inbrünstigen Angriffslust und einer Diffamierungskampagne gegen die Arbeit des Plagiatssuchers. Anstatt Fehler bei der Kanzlerkandidatin selbst einzuräumen wurde Weber selbst mit eingeschliffenen Stereotypen bombardiert, ein regelrechter Kreuzzug gegen den Österreicher eingeläutet. Weber spricht von einer Arroganz der Macht, die nichts mit Kritik anzufangen weiß. Dialogunfähigkeit einerseits und Vokabeln wie „bösartig“, „Rufmord“, „falsche Anschuldigungen“ und „Desinformationskampagne“ andererseits stehen statt Selbstkritik im Raum. Damit ist für den Wissenschaftler klar: Die Grünen reagieren „nicht wie eine Fortschrittspartei (…), sondern sie „schossen zurück“, eher wie ein steifer, alter, beleidigter Parteiapparat.“ Auch gegen Vorwürfe, dass er mit seiner wissenschaftlichen Arbeit den Feminismus attackiere, weist er zurück. „Wenn Feminismus heißt, einer Frau den Vortritt zu lassen, nur weil sie eine Frau ist und die Frau gleichzeitig weniger qualifiziert ist als der Mann, so ist das kein Feminismus, sondern nur ein Echo jener Männergesellschaft, die dieser falsch verstandene Feminismus bekämpfen will“, schrieb Weber in der „Die Presse.“ Und er fügt hinzu: „Warum wurde das „Frauenstatut“ offenbar zum Dogma?“
Wer Grüner ist, hat schon einen Vorteil
Weber ging es nicht um eine Negativ-Kampagne „gegen eine Frau, weil sie Frau ist“, sondern dagegen, dass Baerbock vom „Der Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“ quasi als Säulenheilige verehrt wird, die für unantastbar erklärt wird, nur weil sie eine Grüne ist und linke und ökologische Ideale teilt, die in das ideologische Programm dieser Leitmedien passen. Was Weber stört, ist die ganz bewusste Inszenierung, die eine Kandidatin dann medial aufbauschen und jegliche kritische Recherche ausblenden. Es geht, so der Vorwurf, um einen idealisierten Kandidaten, wo es keine Rolle spielt, ob in ihrem Buch über 50 Textstellen geklaut wurden, wo es egal scheint, dass große Erklärungsnöte in Sachen Nebeneinkünften und einem unabgeschlossenen Promotionsstipendium gibt.
Daraus zieht Weber den Schluss: Wer als unabhängiger Wissenschaftler mediale Ikonen aus dem links-grünen Lager einer kritisch-objektiven Prüfung unterzieht, wird verdächtigt und angeprangert. Im Falle des habilitierten Wissenschaftlers ging das soweit, dass man ihn gleich auf die Seite der Verschwörungstheoretiker geschlagen hatte. Vorwürfe, dass er aus dem rechten Lager stamme, mit den Russen sympathisiere und ein „von der SPD finanzierter Troll“ sei, waren dabei mit inklusive.
Ein Teil der Massenmedien verbreitet selbst Verschwörungstheorien
Mit ihrer Kampagne pro Baerbock contra Weber haben „Der Spiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“, wie der Plagiatsjäger betonte, eines gezeigt: Sie verbreiten selbst Verschwörungstheorien. Und das ist neu. Waren früher Blogger, das Internet und die Sozialen Medien als Teil der kritischen Öffentlichkeit oft im Generalverdacht gegen die offene Gesellschaft anzuschreiben, zeigt sich nun das Gegenteil. Genau in dieser Wahrheitsverschiebung sieht Weber ein Problem für den Journalismus, für den er wieder mehr kritische Distanz und vor allem ein deutliches liberaleres Herangehen fordert. „Eigentlich sollten auch Massenmedien aus dem Fall Baerbock lernen, dass sie Beschreibungen kritisch hinterfragen müssen, bevor sie jemanden über den grünen Klee loben und hochschreiben. Die Enttarnung von Blendern wäre eigentlich Aufgabe der ‚vierten Gewalt‘. Sie hat im Fall Baerbock nicht nur versagt, sie hat sogar eine Gegen- und Scheinwirklichkeit konstruiert“, so Weber in der „Die Presse“.
„Den Kampf um die Ehrlichkeit glauben mir häufig jene nicht, die selbst unehrlich sind“, schreibt Weber. Diese Aussage gilt für den Plagiatsforscher unabhängig von Person und Partei. Wissenschaftliche Arbeit, und sei es das Erforschen von Plagiaten, darf nicht unter das politische Kuratel fallen, einer politischen Korrektheit geopfert werden, sondern gehört als ein Procedere der Wahrheitssuche und -findung zutiefst zum akademischen Diskurs. Damit es aber im Worst Case dazu gar nicht kommt, schlägt Weber einen „Ehrenkodex von politischen Parteien“ vor, „wonach sich Kandidaten zu ausnahmslos wahrheitsgetreuen Angaben in Lebensläufen verpflichten, ihre Nebeneinkünfte transparent machen und ihre akademischen Abschlüsse und Schriften offenlegen.“ Sollte dies dennoch nicht der Fall sein, muss die Wissenschaft Unrecht aufdecken. Das bleibt ihre Aufgabe im Dienst der freiheitlich-liberalen Werteordnung und letztendlich auch für das Staatswohl. Schummeleien zu kaschieren und schön zu reden, darf nicht zum Standard eines Journalismus werden, dem grüne Themen und Klimaschutz wichtiger als die Wahrheit sind.
„Blaue Moschee“: Hamburger Islamisten verklagen Verfassungsschutz
Stefan Groß-Lobkowicz1.08.2021Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik
Das „Islamische Zentrum Hamburg“ steht unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Doch das mögen die Verfassungsfeinde nicht. Jetzt nutzen sie die Mittel des Rechtsstaates, um sich der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu entziehen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Äußerlich ist sie Blaue Moschee an der Außenalster ein Juwel- Zeichen sakraler Baukunst und ästhetischem Esprit. Die Adresse ist renommiert, gleich gegenüber dem Ruderclub thront die Iman-Ali Moschee in der Straße mit dem klangvollen Namen „Schöne Aussicht.“ Zu Beginn der Sechzigerjahre wurde die Imam-Ali-Moschee alias Blaue Moschee in Hamburg gebaut. Finanziert hatten sie damals iranische Geschäftsleute aus der Hansestadt.
Draußen wirbt man im Schaufenster mit einem Plakat „60 Jahre Dialog und Freundschaft“. Offiziell steht das „Islamische Zentrum Hamburg“ (IZH), das seinen Sitz in der Moschee hat, für Dialog und Freundschaft – doch das ist alles Fassade. Denn was sich hinter den Mauern des Gotteshauses abspielt, wo sich bis zu 1500 schiitische Moslems zum Gebet versammeln, ist nicht ganz so demokratisch. In Hamburg regiert das Mullah-Regime kräftig mit und fährt einen rigiden antiwestlichen und islamistischen Kurs.
Seit Jahren unter Beobachtung des Verfassungsschutzes
Seit Jahren bereits gilt das IZH als langer Arm der Ayatollahs im Iran. Und der Verfassungsschutz schaut genau hin, was sich um und in der Blauen Moschee abspielt. Lange bemühte man sich von Seiten der Moschee um ein liberales Image, betonte die Unabhängigkeit. Doch neueste Erkenntnisse des Verfassungsschutzamtes in Hamburg weisen eindeutig darauf hin, dass die „Imam Ali“- Moschee weiterhin eine Repräsentanz des iranischen Gottesstaates ist. Und schlimmer noch: Man pflegt dort auch noch Kontakte zur Terrororganisation Hisbollah. Seit der sogenannten „islamischen Revolution“, damals initiiert von Ayatollah Ruhollah Musawi Khomeini, versucht der Iran durch das IZH sowohl religiösen als auch politischen Einfluss auf die in Deutschland wohnenden Schiiten zu nehmen. Das zuständige Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) nennt die Einrichtung daher auch einen ideologischen, organisatorischen und personellen Außenposten Teherans.
Schon im Jahr 1993 war die Blaue Moschee im Verfassungsschutz-Bericht aufgetaucht, bereits damals verfestigten sich Spuren in den Iran. Und trotz der Vorwürfe der Fahnder ist sie bis heute Teil der Islam-Verträge zwischen der Stadt und der Schura (Rat der islamischen Gemeinden). Versuche, den Ausschluss des IZH durchzusetzen, schlugen bis jetzt fehl.
Mitte Juli 2021 hatten sich die Verfassungsschützer in ihrem Bericht zu einem offiziellen Schreiben der iranischen Staatsführung an IZH-Leiter Mohammad Hadi Mofatteh geäußert. Dabei wurde deutlich: Mofatteh ist als offizieller Stellvertreter des Khomeini-Nachfolgers Ajatollah Chamenei anzusehen, der als geistliches und politisches Oberhaupt des Iran fungiert. Auch der stellvertretende IZH-Leiter des Zentrums, Seyed Mousavifar, so machen Fotoaufnahmen deutlich, redet von einem Rednerpult, das mit der Fahne des verbotenen Hisbollah-Vereins „Menschen für Menschen“ geschmückt ist. Doch die Hisbollah, die „Partei Gottes“ ist seit April 2020 in der Bundesrepublik verboten. „Dabei besteht das besondere Gewicht des IZH als verfassungsfeindliche Bestrebung darin, dass sie nicht offen erkennbar islamistisch auftritt“, heißt es in einem am 16. Juli erschienenen Bericht des LfV. Nach Außen geben sich die eingeschworenen Gotteskrieger als interkulturelle und interreligiöse Begegnungsstätte, um als Gesprächspartner in Politik, Kultur und Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Die Vize-Chefin der Hamburger Verfassungsschützer Anja Domres betont die unseriösen und demokratiefeindlichen Strukturen der Islamisten: „Das IZH ist nach wie vor der verlängerte Arm des Teheraner Regimes in Deutschland und Europa. Zudem stellen wir persönliche und ideologische Beziehungen zur Terrororganisation Hizb Allah fest.“ „Die ‘Blaue Moschee’ ist keine harmlose religiöse Einrichtung, sondern repräsentiert einen antiwestlichen und islamistischen Kurs.“
Islamisten wollen Verfassungsschutz verklagen
Die Arbeit der Verfassungsschützer ist Mohammad Hadi Mofatteh und Co natürlich ein Dorn im Auge. Man will nicht beobachtet und ausspioniert sein, während man Terrorgruppen unterstützt und den Islamismus gegen die Demokratie weiter stärkt.
Mohammad Mofatteh, der das IZH seit 2019 leitet und den Ehrentitel „Hojjatulislam“, wörtlich übersetzt: „Beweis des Islam“, will den Bundesverfassungsschutz verklagen. Unter dem Aktenzeichen 17 K 5081/20 läuft seit 9. Dezember 2020 ein Verfahren am Verwaltungsgericht. Gegenstand der Klage sind „verschiedene Einzelaussagen des Verfassungsschutzes über das IZH und die Einstufung als Verdachtsfall“, so das Verwaltungsgericht. Wann jedoch eine endgültige Entscheidung im Gerichtsverfahren erwartet werden kann, könne das Verwaltungsgericht zum aktuellen Zeitpunkt jedoch noch nicht einschätzen.
IZH-Chef ist ein radikaler Islamist
IZH-Chef Muhammad Mofatteh gilt als radikaler Islamist, er war Mitglied der radikalen „Revolutionsgarden“. Und als „Vertreter des Obersten Führers (Religionsführer Ayatollah Ali Chamenei) ist der Leiter des „Islamischen Zentrums Hamburg“ von Teheran abhängig und muss die Anweisungen von dort direkt befolgen; er ist „berichtspflichtig“. Als Weisungsempfänger vermag Mofatteh nur sehr eingeschränkt eigenständig zu agieren. Zudem erhält der 55-Jährige Mofatteh vertrauliche Briefe von Groß-Ayatolla Makarem Schirazi, der in Verfassungsschutzkreisen als Holocaust-Leugner gilt. Weisungsbedingt und „berichtspflichtig“ macht der radikale Moslem fast alles, um den Herzenswünschen aus Nah-Ost zu entsprechen. Das IZH Bücher bringt Bücher wie Ruhollah Chomeinis „Der Islamische Staat“ heraus, das staatliches Handeln der Scharia unterwirft. Passagen sprechen von rigiden Strafen gegen jedwede Kritiker des Regimes. Es geht um Steinigungen und Peitschenhiebe – auch gegen Homosexuelle, die nach wie vor im Iran hingerichtet werden. Das man in der Blauen Moschee nichts von westlichen Werten und dem amerikanischen Way of Life hält, gehört zu den Grundfesten der Fundamentalisten.
Dass Mofatteh aus Teheran hofiert und ausgestattet wird, liegt im politischen-religiösen Selbstverständnis des Iran begründet. Teheran versteht sich immerhin als die große Schutz- und Führungsmacht der 160 bis 210 Millionen Schiiten weltweit. Und das Regime weiß wie man systematisch kulturelle und religiöse Einrichtungen dazu missbrauchen kann, um Glaubensansichten und die Ideologie der Islamischen Republik zu verbreiten. Schließlich war es Revolutionsführer Ruhollah Chomeini selbst, der das Prinzip der Herrschaft des Rechtsgelehrten (Velajat-e Faqih) entwickelte, dass die höchste Staatsgewalt in die Hand der Kleriker legt und deren Herrschaftsanspruch aus dem Islam ableitet. Genau nach dieser Handlungsanweisung verfährt das IZH und zeigt sich in dieser Funktion zugleich als „ein bedeutendes Propagandazentrum“.
Politiker fordern: Keinen Nährboden in Deutschland für Israel-Hetze
Inmitten der liberalen Demokratie, in Deutschlands weltoffener Hansestadt, kann Chamenei fast mit freier Hand diktieren und seine ideologische Ausrichtung im Westen manifestieren. Ausgerechnet in der Bundesrepublik entsteht so der Nährboden für Israel- und Anti-Amerika-Hetze.
Das nun ausgerechnet der islamische Gottesstaat gegen die liberale Demokratie auf dem Rechtsweg schreitet, kommt einer verkehrten Welt gleich. Das sieht auch der innenpolitische Sprecher der CDU, Dennis Gladiator, so „Grotesk: Verfassungsfeinde nutzen Mittel des Rechtsstaats, um sich der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu entziehen. Das IZH ist klar als verfassungsfeindlich eingestuft, da benötigt es keine weitere Interpretation. Die CDU-Fraktion fordert die sofortige Aussetzung der Islamverträge mit der Stadt Hamburg. Radikale Verfassungsfeinde passen nicht in unser weltoffenes Hamburg.“ Doch nicht nur in der CDU greift der Unmut, auch die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels versteht das Vorgehen des IZH als eine Dreistigkeit, die ihresgleichen sucht: „Klagerechte stehen in Deutschland jedem zu, aber was das IZH hier treibt, ist dreist. Ich hoffe auf ein kluges Urteil.“ Zusammen mit der CDU hatte die AfD im Hamburger Senat wegen einer antisemitischen Demo im Juni, den Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden auszusetzen versucht. Vergebens. Damals sprach der islamische Rat Schura von „islamophober Hetze“. Und IZH-Imam Mofatteh erklärte im Juli in einer Stellungnahme, dass die neuen Erkenntnisse des Verfassungsschutzes unsachlich und unwahr sein. Sein Zentrum habe niemals „staatspolitische Ziele verfolgt“.
Interview mit Frank Walthes: Unsere Kundengelder setzen wir auf energieeffiziente Infrastrukturanlagen
Stefan Groß-Lobkowicz28.07.2021Medien, Wirtschaft
The European traf den Vorstandsvorsitzenden der Versicherungskammer Bayern zum Interview. Wie Frank Walthes gegenüber dem Debattenmagazin betonte, können die Versicherer die Folgen des Klimawandels nicht beherrschen. „Aber wir können dafür sorgen, dass die finanziellen Folgen, die solche Ereignisse für den Einzelnen oft nach sich ziehen, für ihn überschaubar bleiben.”
- Was sind die größten Herausforderungen der Pandemie für Versicherer und Versicherte?
Für uns als Versicherer sehe ich, so überraschend das klingen mag, nach der Pandemie mehr Chancen als Problemlöser für die bestehenden Herausforderungen. Oder anders gesagt, die Pandemie war für uns in vielen Bereichen ein Beschleuniger für die Bewältigung bestehender und neuer Herausforderungen. Etwa in der Digitalisierung, oder im Hinblick auf die Etablierung neuer Arbeitswelten. Während wir die einzelnen Schritte bei der Digitalisierung auch ohne Pandemie nach und nach gegangen wären, haben wir nun einen Sprint hingelegt. Ein Großteil unserer Belegschaft ist – heute noch – im Homeoffice. Unsere Mitarbeitenden erledigen ihren Job von dort aus ohne jegliche qualitative Einschränkungen. Diese positiven Erkenntnisse setzen wir nun zum weiteren Nutzen der Belegschaft und des Unternehmens weiter um.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist Vertrauen. Versicherte brauchen gerade in Ausnahmesituationen, wie eben der Pandemie, einen Partner, bei dem sie sich gut und sicher aufgehoben fühlen und auf den sie sich jederzeit verlassen können. Mit Beginn der Pandemie hatten wir die Chance, das unseren Kunden zu beweisen. Genau das ist uns gut gelungen. Sie sehen es an unseren Geschäfts- und Kennzahlen, insbesondere aber an einer Reihe von Maßnahmen, mit denen wir unseren Versicherten entgegen gekommen sind. Beispielsweise haben wir den Versicherungsschutz für Hilfsfahrten ausgeweitet, die im Auftrag einer Kommune stattfanden. Oder wir haben temporär die Stilllegung von Fuhrpark-Flotten vereinfacht, da deren Fahrten im Lockdown pausieren mussten. In der privaten Krankenversicherung haben wir den vorübergehenden Wechsel in einen günstigeren Tarif ermöglicht, ohne dass die Betreffenden bei Rückkehr in den ursprünglichen Tarif eine erneute Gesundheitsprüfung hätten absolvieren müssen. Dies sind aber wirklich nur drei Beispiele aus einer umfangreichen Palette von Unterstützungsmaßnahmen.
- Eine Pandemie, wie wir sie jetzt erleben, kann privatwirtschaftlich nicht versichert und bezahlt werden, heißt es …
Ja, dem ist so. Das Versicherungsprinzip, dass die Gemeinschaft die Schäden Einzelner trägt, wird bei Pandemien schlicht außer Kraft gesetzt. Deshalb haben wir uns gemeinsam mit dem Gesamtverband der Versicherungswirtschaft Gedanken über eine künftige Lösung gemacht und bereits im Sommer 2020 ein mehrstufiges Absicherungssystem durch ein öffentlich-privates Modell vorgeschlagen, das neben den Versicherern auch den Kapitalmarkt mit einbezieht und in der letzten Eskalationsstufe zusätzlich auf staatliche Hilfen zurückgreifen würde. Dieser Vorschlag stößt bei der Politik grundsätzlich auf breites Interesse, muss aber natürlich noch weiter detailliert werden.
- Welche Konsequenzen müssen Versicherte möglicherweise nach Corona befürchten? Überall steigen die Preise, auch bei den Versicherungen?
Die Corona-Pandemie als solche hat noch keinen Einfluss auf steigende Preise bei uns in der Versicherungskammer. Im Gegenteil: In der Kraftfahrt-Versicherung kann es temporär sogar zu günstigeren Prämien kommen, da die Fahrleistung geringer war und jährlich angepasst werden kann. Ob sich erhöhte Leistungsausgaben wegen Corona-Erkrankungen, akut oder durch Long-Covid-Symptome, in den Tarifen der privaten Krankenversicherung bemerkbar machen, ist noch nicht abzusehen, da die Zeit noch zu kurz ist, um bereits hier ausreichende Erfahrungen zu sammeln. Aber wir konnten, trotz unserer Beteiligung an Corona-Rettungsschirmen und der Übernahme von Kosten für Hygienemaßnahmen bei ärztlichen und therapeutischen Leistungen im ersten Jahr der Pandemie noch keine Steigerung bei den gesamten Leistungsausgaben verzeichnen, was aber natürlich auch daran lag, dass andere Behandlungen teilweise verschoben oder pandemiebedingt gar ausgesetzt wurden.
- Wie stellt sich die Versicherungskammer auf mögliche weitere Pandemien ein?
Ich habe im vergangenen Jahr wieder erlebt, dass man sich im Leben niemals auf alles vorbereiten kann, aber man kann sehr schnell lernen, sich auf unerwartete und nie geglaubte Situationen einzustellen. Es gibt wohl in den meisten Fällen einen Weg, selbst dem noch etwas Gutes abzugewinnen. Seit Beginn der Pandemie haben wir viele Chancen genutzt und eine Reihe von Maßnahmen, die wir im März 2020 ad hoc umsetzen mussten, zwischenzeitlich professionalisiert. Darauf können wir weiter aufbauen. Unser großer Vorteil ist, dass wir bei uns im Konzern Versicherungskammer schon seit Jahren professionell auf unterschiedliche Krisenszenarien vorbereiten und regelmäßig Krisenstabsübungen durchführen. Mit Beginn der Corona-Pandemie haben wir ein Business Continuity Management Team (BCM) etabliert, in dem alle für diesen Fall notwendigen Funktionen vertreten sind. Unsere Aufgabe war es, den Geschäftsbetrieb zugunsten unserer Kunden und Vertriebspartner während einer gesellschaftlichen Krise am Laufen zu halten, die medizinische Lage für unsere Mitarbeitenden zu bewerten, entsprechende Handlungsoptionen daraus abzuleiten sowie die Fragen unserer Mitarbeitenden zu beantworten und sie bestmöglich für das mobile Arbeiten auszustatten. Insofern bin ich zuversichtlich, dass wir bei diesem Zusammenhalt im Konzern auch weitere, unvorhergesehene Ereignisse gut bewältigen werden.
- Wie geht der Konzern derzeit mit den Unsicherheiten volatiler Märkte um?
Die volatilen Kapitalmärkte, geprägt insbesondere von einer bereits sehr lange anhaltenden Niedrigzinsphase, begleiten uns schon sehr lange. Sie sind keine explizite Erscheinung aus der Pandemie; diese hat die Bewegungen zeitweise zwar noch verstärkt, aber ähnliche Ausmaße sehen wir seit vielen Jahren. Unsere Kapitalanlagestrategie ist darauf ausgerichtet, dass wir die Verpflichtungen gegenüber unseren Kundinnen und Kunden langfristig und nachhaltig erfüllen können. Dabei nehmen Investitionen in Infrastrukturprojekte einen zunehmend größeren Anteil ein, wenn auch noch immer auf niedrigem Niveau. Da wird sich in den kommenden Jahren sicher einiges tun und als öffentlich-rechtlicher Versicherer sind wir hier, gemeinsam mit den Sparkassen, gerne gesehene Partner. Wir stehen für Stabilität und sind verlässlicher Langfristinvestor.
- Der Klimaschutz wird immer wichtiger und führt zu einer Transformation der Wirtschaft. Grund für den Anstieg der CO-2-Emmissonen sind Benziner und Diesel! Rüsten Sie Ihre Flotte um und wie viele Ihrer Angestellten fahren bereits mit Ökostrom?
Unser Fuhrpark ist im Rahmen unseres Nachhaltigkeitsengagements natürlich ebenfalls ein relevantes Thema. Nur ist es nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick oft scheint. Zwar wird der CO-2-Ausstoß eines Autos mit Elektromotor deutlich reduziert oder sogar ganz vermieden – aber nur, wenn grüner Strom genutzt wird. Der in Deutschland verfügbare Strommix ist heute aber noch stark CO-2 belastet. Auch bei der Produktion von E-Autos werden hohe CO-2-Emissionen erzeugt. Das ist in Gänze noch unbefriedigend. Deshalb versuchen wir vor dem Hintergrund dieser mehrdimensionalen Situation unseren Fuhrpark umweltschonend umzurüsten. Innerhalb Münchens verwenden wir für Botenfahrten zwischen unseren Standorten beispielsweise Elektrofahrzeuge zur Vermeidung von CO-2-Ausstoß. Hier können wir mit gutem Gewissen sagen, dass die Emissionen, die durch die Produktion entstehen, wegen des langfristigen Gebrauchs klar überkompensiert werden. Darüber hinaus stellen wir unseren Mitarbeitenden in München E-Fahrräder für Kurzstrecken zur Verfügung, die rege genutzt werden. Bei unseren Geschäftsfahrzeugen wägen wir verschiedene Kriterien wie beispielsweise Distanzen, überwiegend Überland- oder Stadtfahrten etc. ab, um eine aus heutiger Sicht sachgerechte Entscheidung zu treffen. Und nicht zuletzt sparen wir durch die vermehrte Nutzung von Video-Konferenzen eine Menge an Emissionen ein. Das darf man nicht außer Acht lassen und dieser Effekt wirkt unmittelbar.
- Investieren Sie in Solaranlagen?
Erst in diesem Jahr haben wir unser Engagement in diesem Bereich über die Investition in unseren Spezialfonds deutlich aufgestockt. Der Fonds, mit einem Zielvolumen im mittleren dreistelligen Millionenbereich, ist derzeit in ein ausgewogenes Portfolio aus Wind- und Solarparks in Deutschland, Frankreich, Österreich und Finnland investiert. Neu in diesem Portfolio ist ein Solarpark in den Niederlanden, in einer Gemeinde, die an Niedersachsen angrenzt. Zum Solarpark gehören Flächen für Blaubeeren und Blumen womit wir die Biodiversivität unterstützen.
- Die Menschen werden immer älter. Die Jungen haben oft weniger Geld in Versicherungen einzuzahlen. Wie sieht aber dann die Zukunft der Versicherung aus? Bei der Rente wird über eine Erhöhung des Eintrittsalters oder über kürzere Rentenbezüge nachgedacht! Gilt für Versicherer Ähnliches?
Sich für die Rente abzusichern und vorzusorgen, ist in der Tat kein sehr dringendes Bedürfnis von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Doch die Notwendigkeit, dass sie privat vorsorgen, besteht mehr denn je. Der demografische Wandel und die niedrigen Zinsen, kombiniert mit steigenden Lebenserwartungen erfordert sogar einen erhöhten Bedarf, für das Alter vorzusorgen. Auch wenn die meisten jungen Menschen es nicht hören mögen, ich kann nur appellieren: Je früher, desto besser ist es, sich eine private Altersvorsorge aufzubauen. Sinnvoll ist zudem, nicht nur auf eine Karte zu setzen, sondern im Laufe der Zeit, wenn jemand schon ein wenig mehr verdient, eine breite Diversifikation anzustreben. Sich frühzeitig mit dem Thema auseinanderzusetzen ist unvermeidbar, um, wie Sie schon sagen, die gesetzlichen Ansprüche auszugleichen oder zu kompensieren. Als Assekuranz ist es unsere Aufgabe, die aktuellen Entwicklungen in unseren Produkten abzubilden und unseren Kunden eine möglichst hohe Sicherheit zu bieten.
- Corona hat digitale Prozesse weiter beschleunigt. Während des Lockdowns waren auch viele ihrer Mitarbeiter im Home Office. Hat sich das bewährt und wird es ein Modell für die Zukunft bleiben, dass Mitarbeiter von Ihnen vielleicht zwei Tage von zu Haus aus arbeiten können?
Ganz klar, ja. Die überaus positiven Erfahrungen die wir mit dem Mobilen Arbeiten bisher gemacht haben, ebenso wie die enormen Zustimmungsraten unserer Belegschaft dazu, werden wir nutzen. Auch nach Corona wird ein großer Teil unserer Mitarbeitenden nur noch einen Teil seiner Arbeitszeit im Büro verbringen. Und deshalb werden wir die Raumkonzepte intelligent darauf anpassen. Smart Working ist hier das Stichwort.
- Die Kommunikation zwischen der Versicherung und den Versicherten soll in Zukunft vereinfacht werden. Dabei spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle wie man Kunden erreicht. Was wird sich mit Blick auf die Kommunikation an der Kundenbetreuung verändern und welche Rolle spielen dabei die Sozialen Medien, die immer wichtiger als direkte Kommunikationsportale werden?
Wir haben bereits heute vielfältige Wege und Beratungstools, um mit unseren Versicherten in Kontakt zu treten. Nach wie vor schätzen wir und viele unserer Kundinnen und Kunden den persönlichen Kontakt in einer Sparkasse, Agentur oder einer unserer Geschäftsstellen. Der Kunde kann, wenn er das möchte, auch über digitale Wege mit uns in Kontakt treten. Gerade in den letzten 15 Monaten haben wir gelernt, wie komfortabel das sein kann. Wir können am Bildschirm eine 1:1 Beratung anbieten und alle für den Kunden in Frage kommenden Angebote mit ihm durchgehen, bis zu dem Punkt, dass er den Vertrag digital unterschreiben kann. Darüber hinaus, Sie sprechen es an, werden die diversen Social Media Kanäle immer wichtiger. Auch diese digitalen Anlaufstellen können unsere Kunden nutzen. Durch unsere Präsenz auf den wichtigsten Plattformen sind wir als Marke gut sichtbar und bieten den Kunden damit vielfältige Wege, um Kontakt mit uns aufzunehmen. Sie nutzen den Kanal, der am einfachsten für sie zugänglich ist oder gerade zur Verfügung steht.. Mit Social Media ergänzen wir unsere klassischen Kanäle und profitieren dadurch von mehr Möglichkeiten für den Kundenkontakt und der Ansprache neuer Zielgruppen.
- Wie legt die Versicherungskammer ihr Geld an. Grüne Geldanlage ist das Trendthema schlechthin. Zunehmend hinterfragen Verbraucher nicht nur ihre Aktiendepots, sondern auch die Versicherungen, denen sie ihr Geld anvertrauen. Viele Menschen wollen grüne und nachhaltige Anlagen, um etwas gegen den Klimawandel tun. Und Sie?
Nachhaltigkeit ist aktuell ein großes gesellschaftliches und politisches Thema, und ganz sicher derzeit auch ein populäres. Dazu zählt gleichermaßen die grüne Geldanlage. Damit beschäftigen wir uns in vielen Facetten und sehr intensiv. Als Versicherungsbranche haben wir ein großes Interesse und uns gemeinsam darauf verpflichtet, unseren Beitrag zur Erreichung der Klimaziele zu erreichen. Bei der Versicherungskammer spielt Nachhaltigkeit schon seit vielen Jahren eine große Rolle. Zum einen in unserem gesellschaftlichen Engagement, aber ebenso bei einer Vielzahl von Aktivitäten und Prozessen im Haus. Angefangen bei unseren Immobilien in nachhaltiger Bauweise bis hin zu eigenen Bienenvölkern auf dem Dach unseres Zentrale in München-Giesing. Auch bei der Anlage unserer Kundengelder setzen wir vermehrt auf nachhaltige und energieeffiziente Infrastrukturanlagen.
- Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit sind drei Säulen, auf die der Konzern aufbaut. Mit welchen Projekten fördern Sie soziale Kompetenz?
Gerade im Hinblick auf die Förderung der sozialen Kompetenz haben wir schon heute vielfältige Aktivitäten. Ein wesentliches Projekt der vergangenen Jahre ist unser Diversity-Engagement, mit dem wir nicht nur für Vielfalt sensibilisieren, sondern auch aufzeigen möchten, welch‘ positive ökonomische Auswirkungen sich dadurch für den Konzern ergeben. An Bedeutung gewonnen hat für uns in den vergangenen Jahren die Etablierung von Generationen-Tandems oder Reverse-Mentoring-Programmen, indem beispielsweise Azubis erfahrende ältere Mitarbeitende und Führungskräfte in Fähigkeiten coachen, die sie sonst deutlich mühsamer erlernen müssten. In den Bereich der sozialen Kompetenz fällt zudem unser wirklich sehr breites ehrenamtliches Engagement, das wir nicht zuletzt sogar mit einer eigenen Stiftung bekräftigen.
- Die Klimakrise erzeugt selbst Druck durch irrwitzige Temperaturausschläge, Starkregen, Wirbelstürme oder Dürren. Die Folgeschäden der globalen Erhitzung belasten das Geschäftsmodell der Versicherer. Wie werden Sie darauf reagieren?
Was Sie ansprechen, haben wir gerade in den vergangenen Wochen und Tagen besonders stark erlebt. Man hat den Eindruck, die Intensität und die Frequenz der Ausschläge nehmen immer weiter zu. Diese Folgen des Klimawandels können wir als Versicherer nicht beherrschen. Aber wir können dafür sorgen, dass die finanziellen Folgen, die solche Ereignisse für den Einzelnen oft nach sich ziehen, für ihn überschaubar bleiben. Wir sind hier, gemeinsam mit der gesamten Versicherungswirtschaft, schon sehr lange aktiv. Die Notwendigkeit Elementarereignisse abzusichern ist ein stetes Thema in unseren Beratungsgesprächen. Denn nicht selten ist mit einem schweren Unwetter die gesamte Existenz bedroht. Und, entgegen häufiger Annahmen, dass eine Vielzahl von Gebäuden nicht versicherbar wäre, ist genau das Gegenteil der Fall. In Bayern können wir bspw. über 99 Prozent problemlos versichern. Das Bewusstsein für diese notwendige Absicherung ist in den vergangenen Jahren schon deutlich gestiegen. Mehr als jeder Zweite, der sein Gebäude bei uns versichert, schließt diesen wichtigen Schutz mit ein. Dennoch – hier gilt es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten und wir werden nicht nachlassen, die Bürgerinnen und Bürger zu sensibilisieren.
Fragen: Dr. Dr. Stefan Groß
Jede fünfte Zigarette wird nicht in Deutschland versteuert
Stefan Groß-Lobkowicz27.07.2021Medien, Wirtschaft
Mit dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Tabakwirtschaft, Jan Mücke, sprachen wir über die Lust am Rauchen, über Innovationen in der Tabakindustrie, über Klimaschutz und warum die Verbraucher trotz sehr hoher Steuern weiter rauchen.
Herr Mücke, Sie sind Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Tabakwirtschaft und neuartiger Erzeugnisse (BVTE). Nun ist die Gründung des Verbands erst vor eineinhalb Jahren erfolgt. Was hat sich in der Branche geändert, und was sind die „neuartigen Erzeugnisse“?
Jan Mücke: Geändert hat sich viel. Wir sind als deutsche Tabakwirtschaft auf einer längeren Transformationsreise. 24 Prozent der Deutschen rauchen. Wir haben zwei Trends, einerseits hin zu einer gesünderen Lebensweise und andererseits den Hedonismus, den es schon seit Jahrtausenden gibt. Die Zigarette ist nach wie vor das beliebteste Genussmittel. Doch wir und viele der Konsumenten suchen nach potenziell weniger schädlichen Alternativen. Mit der E-Zigarette haben wir ein Produkt, das gar keinen Tabak mehr enthält. Ein weiteres Nikotinprodukt, das, obgleich es Tabak enthält, geringere Gesundheitsrisiken birgt, ist der Tabakerhitzer. Dabei wird der Tabak erhitzt, aber nicht verbrannt. So kann der Raucher den Tabakgeschmack genießen – inhaliert aber deutlich weniger Schadstoffe. Die allerneueste Kategorie sind rauch- und tabakfreie Nikotinbeutel, die noch weniger schädlich sind. Für viele Menschen sind das sehr gute Alternativen – ohne auf ihren Tabak- und Nikotingenuss verzichten zu müssen.
Das traditionelle Zigaretterauchen hat durch eine rigide Verbotskultur und Reglementierung vonseiten der Bundesregierung, aber auch international und durch medizinische Erkenntnisse unterfüttert, den Raucher letztendlich zu einem Fossil werden lassen, oder?
Bei Kindern und Jugendlichen bin ich froh, dass es so ist. Und das ist auch ein Erfolg der Arbeit im Handel. Das Thema Kinder- und Jugendschutz ist eines der wichtigsten der gesamten Industrie. Dafür bieten wir Onlinetools zu Schulungszwecken zum Jugendschutz an. Der effektivste Kinder- und Jugendschutz ist die Durchsetzung des strikten Abgabeverbots von Tabak an diese Gruppe.
An das Rauchverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln, Restaurants et cetera. haben wir uns gewöhnt – und das wurde in den Medien auch sehr stark als der richtige Weg interpretiert. Was hat sich in den letzten 30 Jahren bezüglich der Kultur des Rauchens verändert und wie kann man das Rauchen überhaupt noch attraktiv machen, ohne politisch unkorrekt zu werden?
Die Kultur des Rauchens ändert sich alle hundert Jahre. Das 18. Jahrhundert war das der Pfeife. Friedrichs II. Tabakskollegium war legendär. Das 19. Jahrhundert war von der Zigarre geprägt. Die Zigarette passte hingegen in das Zeitalter der Industrialisierung, die auf den massenhaften Konsum einging. Daher ist die Zigarette das ideale Produkt für das 20. Jahrhundert – in einer immer hektischer werdenden Zeit. Im 21. Jahrhundert sind wir in einer Zeit angelangt, wo gesundheitliche Aspekte eine große Rolle spielen. Der Ansatz der „Schadensminimierung“ wird die Grundmelodie aller zukünftigen Regulierungs- und Besteuerungsdiskussionen sein. Wie also kann man sicherstellen, dass die Menschen, die rauchen wollen, dies weiterhin tun können, ohne ihre Gesundheit übermäßig zu schädigen? Also die Transformationsreise geht weiter – und sie soll so verlaufen, dass niemand bevormundet oder das Rauchen ganz verboten wird. Von Prohibition halten wir nichts, die Folgen einer prohibitiven Regulierung sind oft sehr negativ, wie das Entstehen der organisierten Kriminalität während der Alkoholprohibition in den USA vor hundert Jahren gezeigt hat. Es kommt darauf an, mit Verstand und ohne Bevormundung zu regulieren.
Das Thema Nachhaltigkeit wird auch bei der Tabakindustrie immer wichtiger. Hier will vor allem die Regierung mit dem „Kreislaufwirtschaftsgesetz“ die Tabakhersteller in die Pflicht nehmen. Herr Mücke, was versteht man (a) darunter und was bedeutet das (b) für Ihren Verband?
Das Kreislaufwirtschaftsgesetz steht auch in Verbindung mit dem Verpackungsgesetz. Dahinter steht die Frage, wie Verbraucher die Umwelt weniger durch das Wegwerfen von Zigarettenkippen schädigen. Unser Verband will durch viele Maßnahmen dazu beitragen, den Raucher zu sensibilisieren, achtsam zu sein. Wir arbeiten mit Partnern aus anderen Industrieverbänden, die diese Kunststoffprodukte herstellen, daran, gute Entsorgungskonzepte für Einwegplastikabfälle zu finden. Es bleibt dabei: Rauchabfälle gehören nicht auf Plätze und Straßen, sondern in Abfallbehälter und dort, wo diese fehlen, in einen Taschenaschenbecher. An der Nord- oder Ostsee arbeiten wir mit den Strandkorbvermietern zusammen, damit Zigarettenabfälle nicht am Strand landen.
Nicht nur dass viele Raucher ihre Zigarettenkippen einfach wegwerfen und damit eine Ordnungswidrigkeit begehen, ist ein Problem, sondern auch die Thematik mit den Filtern, die dazu da sind, die gesetzlich zulässigen Höchstwerte an Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid im Rauch einzuhalten. Diese bestehen zwar aus einem Material, das sich vollständig biologisch abbauen lässt, der Vorwurf ist aber, dies geschehe zu langsam und sei ein Problem für den Umweltschutz. Wie also geht es mit den Filtern weiter?
Hier ist man bei der Entwicklung von neuen Filtern sehr weit. Es gibt schon Produkte, wo sich die Filter nach 60 Tagen biologisch abbauen. Aber wichtiger als dieser Abbau bleibt, dass der Verbraucher seine Abfälle verantwortungsvoll entsorgt. Auch ein Filter, der nur 60 Tage in der Natur liegt, verschmutzt die Umwelt. Wir alle können Verantwortung für die Umwelt übernehmen.
Apropos Steuern. Seit den letzten Jahren werden die Preise für Zigaretten immer höher, die Steuern steigen. Woran liegt das? Verdient da nur der Staat daran und ist das der richtige Weg, um den Menschen das Rauchen abzugewöhnen?
Natürlich verdient in erster Linie der Staat. Im Schnitt gehen bei einer Packung Zigaretten zum Preis von 7 Euro bereits 70 bis 75 Prozent an den Fiskus, das sind circa 5 Euro an Tabak- und Umsatzsteuer. Was dann noch übrig ist, teilt sich in etwa zu zwei und einem Drittel zwischen Handel und Industrie auf. Der Staat bleibt der große Gewinner. Allein 2020 hat der Bund aus der Tabaksteuer und der Umsatzsteuer über 19 Milliarden Euro durch Tabakerzeugnisse eingenommen.
Werden die Zigaretten in den nächsten Jahren noch teurer?
Aufgrund von erhöhten Energie-, zusätzlichen Lieferkosten, steigenden Tarifen und Arbeitslöhnen wird das Rauchen auch in Zukunft nicht billiger. Die Tabakprodukte werden aber in erster Linie durch immer mehr und höhere öffentliche Abgaben belastet und damit teurer.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte die Bundesregierung die Tabaksteuer massiv erhöht und seitdem haben wir einen konstant hohen Anteil zwischen 17 und 21 Prozent von nicht in Deutschland versteuerten Zigaretten. Wir müssen also aufpassen, dass die Kriminalität hier nicht weiter ansteigt und der Schwarzmarkt noch größer wird. Es ist mittlerweile ein einträgliches Geschäft für die organisierte Kriminalität geworden. Deshalb warnen wir die Politik immer, es mit Steuererhöhungen zu überziehen. Immer dann, wenn Produkte erheblich verteuert werden, versuchen die Konsumenten auf preisgünstigere Alternativen auszuweichen – aber sie hören nicht auf zu rauchen. Die Gefahr sehen wir gerade aktuell beim Entwurf des Tabaksteuergesetzes, das im Juni verabschiedet wurde. Der Ansatz der kontinuierlichen Erhöhung sollte auch auf die E-Zigaretten und Erhitzer übertragen werden, aber bitte mit Augenmaß, damit sich Verbraucher nicht auf dem Schwarzmarkt versorgen.
Das Gespräch führte Stefan Groß
Wir Gendern uns zu Tode
Fast zwei Drittel der Bundesbürger hält nicht viel vom Gendern. Dennoch streicht die Bundeswehr ein altbewährtes Wort und die Stadt Bonn legt einen Leitfaden für korrektes Sprechen vor. Von Stefan Groß-Lobkowicz.
Ein Gespenst geht um – der Genderwahn. Dass wir inmitten der größten Pandemie der Weltgeschichte keine anderen Probleme haben, unterstreicht der ganze Irrsinn der angestachelten Debatte. Auch die Bundeswehr gendert, was das Zeug hält. Nun soll ein Begriff geopfert werden, der den Soldaten lieb und teuer ist. Seit Jahren bekommen diese ihre Marsch- und Feld-Verpflegung in der sogenannten „Einmannverpackung“, einer Tagesration, die aus Fertiggerichten und Instantkaffe besteht. Doch auf Rücksicht auf die Soldatinnen muss ein neues Wort her, das in Zukunft für das kulinarische Glück der Truppe steht. Bis zum 30. September hat die Armee jetzt Zeit, Ersatz für das unliebsam gewordene Wort zu finden.
Die Stadt Bonn, einst das mächtige politische Zentrum der Republik, hat einen neuen Leitfaden mit dem Titel „Geschlechtergerechte Sprache in der Stadtverwaltung“ vorgelegt, der den Mitarbeitern vorschreibt, welche Begriff sie verwenden dürfen. Zulässig sind danach nur noch gendergerechte Formulierungen. Seit Jahren hat sich die ehemalige Bundeshauptstadt den Neusprech auf die Fahnen geschrieben, „Geschlechtergerechtigkeit (Gender Mainstreaming) wird hier als integrierender Prozess verstanden, der hinterfragt, inwieweit „politische Entscheidungen und Verwaltungshandeln eine echte Chancengleichheit der Geschlechter erreichen.“ Wohin die neue Sprachideologie führt, zeigt sich schon exemplarisch in Köln. Dort muss die Kölner Verwaltung statt „jeder“ künftig „alle“ sagen, „weil jeder – Bürger, Kölner, Jeck – ja nur Männer anspreche“. Und aus den Fußgängern und Fußgängerinnen würden demnächst Zufußgehende.
Das Gendern wird zum Religionsersatz
Was sich einst als eine harmlose linguistisch anmutende Debatte über das Geschlecht nach dem Linguistic Turn entwickelte, der maßgebende Impulse dem postmodernen, poststrukturalistischen Diskurs von Jaques Derrida verdankte, ist zu einer radikalen Programmatik geworden, absoluter Wahrheitsanspruch inkludiert. „Nun sag’, wie hast du’s” mit dem Gendern – dann ich sage Dir, wer Du bist – so zumindest könnte man Goethes Gretchenfrage zur Religion aus dem „Faust“ zum Glaubensbekenntnis des 21. Jahrhunderts transformieren. Denn das Gendern trägt heutzutage – und dies immer mehr – fast religiöse Züge. Wie einst im Mittelalter Wahrheit, Rechtgläubigkeit und Dogma der katholischen Kirche das Leben der Menschen justierten, so ist es heute das Gendern. Wer damals nicht an die ewige Wahrheit, Offenbarung und an das Dogma glaubte, wurde der Ketzerei bezichtigt und auf das mediale Schafott geführt, entmündigt und totgeschwiegen. Wer heute an der neuen Religion und Deutungshoheit zweifelt, dass Mannsein und Frausein eine „gesellschaftliche Konstruktion“ sind, wer Alternativen zu Homo und Hetero nicht aufheben will, wer Begriffe wie „Mann“ und „Frau“ unkritisch seinem Seelenhaushalt verordnet, gehört einer Welt oder Generation buchstäblich im Sinne Stefan Zweigs von Gestern an. Das moderne Autodafé dreht sich weiter, es ist zwar antimetaphysisch, aber das Dogmatische bleibt, als transzendenzlose Metaphysik. Heute geht es nur noch um die beweglichen Formen von Geschlechtlichkeit – oder eben um den Abschied vom Prinzipiellen, von der tradierten Überlieferung von Mann und Frau, von traditionellen Geschlechterrollen, also davon, dass Mannsein und Frausein nicht biologische, sondern vielmehr „gesellschaftliche Konstruktion“ sind.
Schon längst hat die Gendertheorie, Gender Studies und Gender-Mainstreaming die Welt des Wissens erobert. Die Universitäten, einst Kathedralen des Wissens, sind zu Sprechröhren der neuen politischen Korrektheit geworden, zu regelrechten Blasen des Gender-Jargons, die die neue „Wissenschaft“ mit hunderten von Lehrstühlen und mit Millionen Unsummen finanzieren. Aber beim Gendern handelt es sich nach wie vor um eine Religionswerdung qualitativ schwacher Kraft, die zwar den Anspruch auf eine Mehrheitsdoktrin mit gewaltigen Sanktionsmechanismen für sich in Anspruch nimmt, letztendlich aber nichts anderes als ein neues Glaubensbekenntnis ist, das Kritiker vor den Richterstuhl zieht und knechtend beugt bis sie sich zum neuen Glauben bekennen.
Dabei sind zwei Drittel, wenn nicht fast 90 Prozent der Deutschen, nicht mit der Umformatierung der Sprache einverstanden, wie eine neuere Umfrage von Infratest ergab. Hierzulande hält sich die Begeisterung in Grenzen, wenn es um einen Neusprech geht, der die Sprache verunglimpft und geradezu verhunzt, wo der Begriff des Bäckerhandwerks durch Backendenhandwerk ersetzt werden soll, wo von im Biergarten sitzenden Radfahrenden statt von dort sich erholenden Radfahrern die Rede ist. Die Corona-geschüttelten deutschen Bundesbürger wollen keine Elter 1 oder Elter 2. Man trägt ein großes Unbehagen an den Sprach- und Schreibmonstern wie Bürger*innen, BürgerInnen, Bürger:innen, Bürger/innen und Bürger_innen.
Wer die Sprache transformiert, legt das Hackebeil an die tradierte Gesellschaft, an einen Wertkanon, der sich über Jahrhunderte formte, nimmt die Zerstörung kultureller Traditionen leichtfertig in Kauf. Denn wer seine Sprache zerstört, cancelt sich selbst.
Australische Universität gibt neue Richtlinie, die die Wörter „Mutter“ und „Vater“ geschlechtsneutral machen
Die Amputation der Sprache wird aber in Australien ganz anders gesehen. Dort wird akribisch transformiert und das Halteseil traditioneller Begriffe zerschnitten. Die „Australian National University“, keineswegs eine Eliteuniversität, und speziell ihr Gender-Institut sind es, das sich eine gerechtere, menschlichere, nicht rassistische und nichtdiskriminierende Sprache auf die Agenda geschrieben haben. Und das wollen sie so genau und akkurat machen, dass sie Wörter wie „Mutter“ und „Vater“ zwar nicht gleich aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen wollen, aber zumindest perspektivisch durch geschlechtsneutrale Wörter zu ersetzen suchen. Richtlinie hin und her, es bleibt dem Duktus nach eine unverbindliche Verbindlichkeit, die hier im Namen einer selbst aufgeplusterten „Wissenschaft“ aufgerichtet wird und damit letztendlich kein Angebot der intellektuellen Freiheit mehr ist, sondern selbst zur Doktrin avanciert. Man kann am Sinn und vor allem am Verstand der „Macher“ zweifeln, ausgerechnet bei Wörtern wie „Mutter“ und „Vater“ den Rotstift anzusetzen. Denn den Initiatoren geht es um nichts Geringeres als peu à peu eine genderspezifische Sprache quasi durch die Hintertür hindurchzuwinken, da im Handbuch erklärt wird: „Sprachgewohnheiten brauchen Übung, um sie zu überwinden, und die Studenten erkennen die Bemühungen an, die Sie machen, um sich inklusiv auszudrücken.“
Der genderneutrale Wort-Schatz beinhaltet unter anderem neue Begriffe für die Eltern. So sollen die Lehrenden und Studenten zur Mutter zukünftig „Austragendes Elternteil“ und zum Vater „Nicht-gebärendes Elternteil“ sagen. Gleiche Umbenennung soll, rein akademisch und unverbindlich, als „wissenschaftlich gender-integrative Lehre auch für den Begriff des Stillens gelten. Anstelle der „Muttermilch“ wollen die Macher künftig den Ausdruck „Menschliche Milch“ oder „Elternmilch“ setzen.
Auch in England wird gegendert, was das Zeug hält. Hier will man die historische Ausgrenzung von trans- und nichtbinären Menschen auf den Geburtsstationen beenden und setzt auf geschlechtsneutrale Begriffe. So legten die Universitätskliniken von Sussex und Brighton, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nahe, neutrale Worte zu verwenden. Man will, so die neue Maxime, der Vielfalt ihrer Patientinnen und Patienten gerecht werden – und da es nun auch transsexuelle Schwangere gibt, müssen neue Begriffe kodifiziert werden. „Person” statt „Frau”, „Geburtselternteil” statt „Mutter” oder eben auch „Menschenmilch” oder „Milch des stillenden Elternteils” soll die Bezeichnung „Muttermilch” ersetzen. Und statt „Vater” gelte es eher „Elternteil” oder „Co-Elternteil” zu sagen. Diese neu erschaffene Sprache soll dann frei von Diskriminierung sein und auch in den Geburtsvorbereitungskursen oder bei anderen Terminen, an denen beide Elternteile teilnehmen, verwendet werden. Schließlich beginne Ausgrenzung bei der Sprache. Trotz der geschlechtsneutralen Begriffe soll aber auch weiterhin die übliche Sprache für (CIS-) Frauen verwendet werden, hieß es.
Für einen religiös Musikalischen ist der Neusprech, die postulierte Aufhebung von sprachlicher Diskriminierung, aber nichts anderes als eine neue Form einer sprachlichen Apartheid, die nicht nur Sprachmonster generiert, sondern in ihrer medialen Diktion und im Tenor erschreckend einseitig, intolerant und aggressiv sind. Anstatt die ohnehin brüchige Gesellschaft im Geist der Versöhnung harmonisch zu befrieden, befeuert das Gendern einen kontraproduktiven Diskurs, der mehr zerstört.